Kapitel 3
Ein
Schweißtropfen rann seine Schläfe hinab und kitzelte ihn, sobald er den
Halsansatz erreicht hatte. Leif mochte das Gefühl seines ruhig und schwer
schlagenden Herzens. Das Gewicht des Rucksacks drückte auf seine Schultern und
Hüften. Schon vor einer Stunde hatte er sich Regen- und Fleecejacke ausgezogen.
Die Sonne schien, die Luft war klar und frisch. Der Anstieg war nicht so
schwierig, wie er befürchtet hatte, aber dennoch sehr anstrengend. Neben ihm
schnaufte Paul. Er sah mitgenommen aus und Leif grinste ihn frech an. Seinem
Freund schien die Puste für eine entsprechende Entgegnung zu fehlen.
Gemeinsam mit
Sam hatten sie am Vortag alles Nötige zusammengepackt. Neben ihren eigenen
Sachen und drei Zelten gehörte dazu vor allem die Ausrüstung zur Entnahme der
Proben. Jeder von ihnen beschäftigte sich mit einem eigenständigen Teilgebiet,
sodass sie in unterschiedlichen Zonen des Sees unterwegs sein würden. Mit einem
Schlauchboot würden sie auch hinausfahren und Wasserproben in unterschiedlicher
Tiefe sammeln können. Leif mochte sich nicht vorstellen, wie das Ding hier
heraufgeschleppt worden war.
Er blieb stehen
und beschattete seine Augen. Sie waren inmitten eines Geröllfeldes, das sanft
anzusteigen schien. Von ferne erweckte es zumindest den Eindruck. Tatsächlich
war die Steigung ganz schön happig. Immer wieder rutschte das feine Geröll
unter ihren Stiefeln weg, sodass jeder bewältigte Höhenmeter eine mühselige
Plackerei war.
»Beschissenes...
über... dimensionales... Katzenklo!«, keuchte Paul und wischte sich über die
Stirn.
Hätte Leif mehr
Atem gehabt, hätte er gelacht. Doch so grinste er nur schwach und konzentrierte
sich auf den Weg. Einige Meter vor ihm gingen Samuel und Harkonsen, dicht
gefolgt von Steffen, dessen Gesichtsfarbe inzwischen ein ungesundes Rot
angenommen hatte. Auch Samuels Shirt war verklebt, seinen Parka hatte er unter
die Klappe seines Armeerucksacks gestopft. Ein Ärmel lugte heraus und baumelte
hin und her. Seine langen Beine trugen ihn in gleichmäßigen Schritten bergan.
Leif war bei dem
Anblick versucht, seinen Kopf gegen einen der sie umgebenden Felsen zu
schlagen. Dass ein Teil seiner selbst sich nur allzu schmerzhaft bewusst war, wer dort vor ihm
ging, änderte aber leider nichts an der Tatsache, dass ein anderer Teil von ihm
– wahrscheinlich nah am Hypothalamus positioniert – Sam schlichtweg auf den
Arsch starrte. Leif fand sich selbst zum Kotzen.
Das Terrain um
sie veränderte sich allmählich. In den Senken lag alter Schnee, angetaut und
glitzernd wieder festgefroren. Der Schnee erinnerte Leif an die Konsistenz von
Baiser, wenn er darüber lief und die oberste Schicht plötzlich brach, sobald er
genügend Gewicht auf ein Bein legte. Je weiter sie emporkamen, umso flächiger
und tiefer lag der Schnee, bis er Leif an einigen Stellen bis über die Knie
reichte.
Auf einer
Hügelkuppe machten sie Halt. Leifs Trinkflasche war fast leer und gierig sog er
die letzten Schlucke ein.
»Hier.«
Sam hielt ihm
seine Flasche hin. Die Sonne glänzte auf dem Aluminium. Obwohl Leif Durst
hatte, war er versucht, mit einem stummen Kopfschütteln abzulehnen. Verärgert
zog er die Brauen zusammen. Er benahm sich wie ein kleines Kind. Samuel konnte
offensichtlich normal mit ihm umgehen. Warum musste er selbst sich dann stets
die Blöße geben und dem anderen zeigen, dass... Mit einem Nicken, das alles
andere als entspannt und freundlich wirkte, nahm Leif die Trinkflasche an.
Sam wollte sich
bereits wieder von ihm abwenden, als er von Leifs hervorgepresstem Danke aufgehalten
wurde. Samuel sah Leif einen Herzschlag lang an, dann lächelte er. Ein
oberflächliches Lächeln. Doch was Leifs Magen ein seltsames Flattern bescherte,
war der Ausdruck ehrlicher Überraschung, den er ganz kurz in Samuels Augen
hatte erkennen können.
Als sie
schließlich den Speilhav erreichten, raubte der Anblick Leif den Atem. Aber es
war nicht die herbe Schönheit der Natur um ihn, die sein Herz so stark schlagen
ließ, dass ihm die Kehle eng wurde und Übelkeit mit jedem weiteren Atemzug in
ihm aufzusteigen schien. Unbewusst hob er die Hand zum Kragen seines Shirts und
zerrte daran.
Leif kannte
diesen See.
Er hatte viele
Male an seinem Ufer gestanden. War auf das milchige Eis getreten. Hatte sich in
trügerischer Sicherheit gewiegt und die gezackten Felsen am Ende des gefrorenen
Gewässers anvisiert, als ob sie ihm helfen könnten, ihn zu überqueren. Warum er
jedes Mal von Neuem auf das Eis trat, wusste Leif nicht. Es war wie ein innerer
Zwang, dem er im Traum gehorchen musste. Bis das Eis splitterte und sich die
Kälte um ihn schloss. Bis er den tonlosen Ruf aus der Tiefe vernahm. Lockend.
Eine sanfte Berührung, die ihm ins Fleisch schnitt. Schwärze. Verzweiflung.
Alles brodelte um ihn herum, die letzten Luftblasen verließen seinen Mund. Dann
kam die Stille und mit ihr das Ende der Einsamkeit.
Kalter Schweiß
brach Leif aus, während er stumm auf den See starrte. Er war umrandet von
kargem Gestein, das durchsetzt war mit weiß leuchtenden Flecken aus Schnee. Er
hörte nicht, was seine Kommilitonen mit Harkonsen besprachen. Ihr erleichtertes
Lachen, nun, da sie endlich angekommen waren, nahm er nicht wahr. Das hier war
ein Albtraum. Sein ganz persönlicher Albtraum, und Leif wusste mit grauenvoller
Sicherheit, dass er nicht schlief.
Der Traum
begleitete ihn seit langer Zeit, wenngleich er ihn in den letzten Jahren
seltener heimgesucht hatte. Schon als Junge war er daraus hervorgeschreckt,
schreiend und mit verheultem Gesicht. Und auch, wenn er sich das Weinen
inzwischen fast gänzlich abgewöhnt hatte, schaffte es der Traum doch immer
wieder, schwarzen Spinnweben gleich an ihm haften zu bleiben. Stunden, nachdem
er erwacht war, fühlte er sich dann, als ob ein Teil von ihm noch dort unten in
der Tiefe des Sees wäre.
Leif hatte kein
Erlebnis gehabt, das auch nur annähernd den Geschehnissen in seinem Traum
entsprach. Er schwamm nicht besonders gerne, obwohl er als Junge im Sommer viel
Zeit am Weiher in der Nähe seines Heimatdorfes verbracht hatte. Doch seit dem
Jahr, in dem die Träume begonnen hatten, hatte ihn der Gedanke an die trübe und
dunkle Tiefe unter ihm mit leisem Unbehagen erfüllt.
Leif konnte sich
nicht rühren. Er schlang die Arme um seinen Körper. Ihm war plötzlich furchtbar
kalt. Sein Verstand versuchte zu greifen, was er sah, doch es gelang ihm nicht.
Wie wenn man auf einem maroden Fahrrad sein Gewicht in die Pedale stemmt und
diese unvermittelt nachgeben, schienen alle rationalen Gedanken an dem Bild des
Sees vor ihm abzurutschen. Es war einfach nicht möglich...
Doch er erkannte
die Landschaft wieder. Schwarze Felsen prägten das Bild, es gab keine Büsche
oder Bäume. Nur Moos und struppiges Gras, das sich in die Felsspalten krallte.
Vor allem aber kannte Leif das Gefühl der Ohnmacht, das der Anblick des Sees in
ihm auslöste. Unausweichlich. Er hatte keine Chance. Hatte nie eine gehabt. Die
Tiefe rief nach ihm, war schon ganz nah. Kein Entkommen.
Leif zuckte
heftig zusammen, als sich eine Hand auf seine Schulter legte. Ein Körper an
seiner Seite. Er konnte den Blick nicht vom See abwenden und doch wusste er,
wer neben ihm stand.
»Das Eis auf dem
See ist sehr dünn. Es trägt nicht einmal mehr das Gewicht der Gänse. Siehst
du?«
Sam zeigte auf
den See und tatsächlich, jetzt konnte Leif erkennen, dass die Oberfläche
Schmelzlöcher aufwies.
Es war, als
bräche ein Bann, der über Leifs Sicht gelegen hatte. Er blinzelte irritiert.
Natürlich. Die Eisfläche war nicht geschlossen wie in seinem Traum. Und
überhaupt... etwas vom Ufer entfernt konnte er eine Ansammlung blauer
Plastikfässer ausmachen, die eng beieinanderstanden. Die gab es in seinem Traum
auch nicht. Und die Felsen... wahrscheinlich hatte jeder dritte Felsen an einem
See in Norwegen diese spitzen Zacken...
Mit einem Mal
wurde er sich Samuels Nähe überdeutlich bewusst. Noch immer hatte er seine Hand
auf Leifs Schulter und es war verrückt, wie gut sich diese Berührung anfühlte.
Er stand nah an Leifs Seite, so nah, dass Leif seine Wärme spüren konnte. Zu
dicht für einen Mann, der ihm im Grunde fremd war. Und viel zu nah für einen
Mann, den Leif einmal geliebt hatte.
Mit einem
unbehaglichen Laut machte sich Leif los. Erst jetzt merkte er, dass er
zitterte. Er warf einen verunsicherten Blick zu Samuel, doch der blickte noch
zum See hinab. Als hätte er Leifs Abwehr nicht bemerkt. Oder als sei sie ihm
egal.
Der Rest ihrer
Gruppe machte sich bereits an den Abstieg in die flache Talmulde, in der der
See lag. Leif konnte Steffen lachen hören und Harkonsen eine Erwiderung rufen,
die Leif nicht verstand. Ihre Stimmen hallten seltsam verzerrt von den
umgebenden Hängen des Tals zurück. Einige aufgescheuchte Vögel flogen mit ärgerlichen
Rufen davon.
»Es ist ein
stiller Ort – eigentlich«, meinte Sam leise, als ob er zu sich selber spräche.
Dann wandte er
den Kopf und lächelte Leif an.
»Ich komme gern
hierher. Nicht ganz leicht im Winter. Dieses Jahr lag der Schnee hoch, kein Durchkommen
für einige Wochen. Hab es auch noch nicht erlebt, dass der Speilhav jetzt noch Eis
hat. War früher aber wohl häufiger so. Das Eis macht eure Arbeit wohl nicht
leichter, hm?«
Leif starrte
Samuel ungläubig an. Was redete der denn da? War das ein schräger Versuch von
Small Talk?
Als Leif nicht
antwortete, zuckte Sam mit den Schultern. Dann ging er den anderen hinterher.
Mit einem
Schnaufen ließ sich Steffen neben Leif auf den Boden plumpsen. Seine hohen
Gummistiefel, die in eine Fischerhose übergingen, waren nass, die Ärmel seiner
Jacke hochgeschoben. Die rotblonden Haare auf seinem Unterarm glänzten im
spätnachmittäglichen Licht.
»Gut gelaufen?«,
fragte Leif.
Steffen grinste.
»Kann nicht klagen. Na ja, einmal hätte ich fast den Abgang gemacht, als ich
auf einem Stein weggerutscht bin, aber ansonsten bin ich zufrieden. Muss aber
noch ein paar Proben fixieren.«
Steffen angelte
nach seinem Tabakbeutel und begann, sich eine filterlose Zigarette zu drehen.
Schweigend
blickten sie über das Ufer des Sees. Das dünne Eis hatte nun eine Fahrrinne, da
Paul mit Harkonsen hinausgerudert war, um an einem mit einer Boje
gekennzeichneten Punkt in der Mitte des Sees Wasserproben aus unterschiedlichen
Tiefen zu sammeln. Das Ratschen eines Feuerzeuges ertönte und Leif wehte der
Rauch der Zigarette um die Nase. Er mochte den Geruch, auch wenn er selbst
nicht rauchte und auch den Geschmack fürchterlich fand. Aber an der frischen
Luft war die erste Qualmwolke angenehm.
Leif hatte für
seinen Teil der Arbeit weniger Proben fixieren müssen, dennoch lag jetzt eine
schöne Sammlung an akkurat beschrifteten Glasbehältern in der Kühltasche, die
Plankton und andere Mikroorganismen enthielten. Das Klemmbrett neben ihm war
bekritzelt mit den Temperatur- und pH-Werten der Stellen, an denen er die
Proben entnommen hatte. Ob die Proben aber wirklich etwas taugten, würden sie
erst im Labor erfahren.
Das ruhige
Arbeiten hatte Leif gutgetan. Zuerst hatte er sich dem See mit Vorsicht
genähert. Sein Puls war zu schnell gewesen, die Handflächen feucht. Einer der
Glasbehälter wäre ihm fast aus der Hand gefallen und auf den Felsen zerschellt.
Aber je länger er sich am Wasser aufgehalten hatte, desto ruhiger war er
geworden. Der See hatte nun nur noch eine entfernte Ähnlichkeit mit der eisigen
Landschaft aus seinem Traum. Der Geruch nach Moos und feuchten Steinen gab ihm
Sicherheit.
Er war zufrieden
und legte den Kopf in den Nacken, um sich die Sonne ins Gesicht scheinen zu
lassen.
»Ist Harkonsens
Angebot nicht der Hammer?«, meinte Steffen in das einvernehmliche Schweigen
hinein.
»Welches
Angebot?«, antwortete Leif und runzelte die Stirn, unwillig, seine Haltung
aufzugeben. Neben ihm ertönte ein Schnauben.
»Allzu viel
bekommst du gerade nicht mit, oder? Harkonsen hat gesagt, dass er anfragen
wird, ob wir Vergleichsdaten der institutseigenen Messstationen der letzten
dreißig Jahre nutzen dürfen.«
»Heilige
Scheiße«, kommentierte Leif erstaunt und setzte sich auf. Nur, weil ihre
Universität mit den Norwegern kooperierte, hieß das nicht, dass die Forscher
bereitwillig ihre Rohdaten herausrückten.
»Wenn das
klappt, kann der Dettmann gar nicht anders, als uns eine Eins Komma irgendwas
zu geben«, grinste Steffen.
»Na, erst mal
müssen wir selbst anständige Proben ziehen und den ganzen Dreck auch noch
auswerten. Vom Schreiben mal ganz abgesehen«, dämpfte Leif Steffens
Enthusiasmus. Besonders vor dem letzten Teil graute es ihm. Er war gut darin,
biologische und chemische Analysen zu machen, seine Erkenntnisse in Worte zu
verpacken, fiel ihm hingegen schwer. Außerdem war ihr betreuender Professor,
Kornelius Dettmann, alles andere als freigiebig mit guten Noten.
Steffen blies
die Wangen auf. »Manchmal bist du ganz ekelhaft pessimistisch.«
Leif zuckte mit
den Schultern und beobachtete, wie Steffen einen weiteren Zug von seiner
Zigarette nahm.
»Aber ich sag
dir eines: Ich glaube, dass wir mit dieser Arbeit eine verdammt gute Note
abstauben können, wenn wir keine Scheiße bauen. Und dann«, gestikulierte
Steffen, »geht es für mich ab nach Südamerika!«
Leif grinste.
Seit fast zwei Jahren plante Steffen schon seine Reise auf den fernen Kontinent
und sparte Geld zusammen. Mindestens sechs Monate wollte er nach Abschluss
seines Studiums von Venezuela bis nach Patagonien tingeln.
Steffen drückte
den Stummel seiner Selbstgedrehten aus. »Hab ich dir schon erzählt, dass mein
Alter mein Reisebudget verdoppelt, wenn ich seinen Notenschnitt von damals
unterbiete?«, fragte er grinsend.
Leif stieß einen
Pfiff durch die Zähne aus. »Und wo liegt der?«
»Eins Komma
drei«, meinte Steffen lapidar. »Aber natürlich in Physik.«
»Das ist ja noch
schlimmer!«, stöhnte Leif.
Nun war es an
Steffen, mit den Schultern zu zucken. »Klar hat er rumgetönt, dass ich mit
meinem Luschen-Studium eigentlich gar nicht mit seinen Noten in Vergleich
treten dürfte, aber als ich ihm intellektuellen Snobismus vorgeworfen hab, hat
er eingelenkt«, erklärte Steffen fröhlich.
Leif wusste,
dass Steffen und sein Vater sich regelmäßig darüber beharkten, welches ihrer
Studienfächer anspruchsvoller war. Aber es war eine mit liebevoller Sturheit
geführte Diskussion, keine düstere Rede, wie er selbst sie so oft zu hören
bekommen hatte. »Mein Vater sagt mir noch heute bei jedem Besuch, dass ich
studiere, um am Ende als promovierter Taxifahrer zu arbeiten«, meinte er
tonlos.
»Scheiß Ansage«,
kommentierte Steffen.
»Hm«, druckste
Leif und grub den Absatz seines Stiefels fester in den Boden. Er straffte sich
merklich. »Sag mal, was ich dich schon immer fragen wollte: Warum hängst du
eigentlich nicht mit Tanja und den anderen Cracks rum? Ich meine, dein
Notenschnitt wäre gesichert, wenn du mit besseren Leuten zusammenarbeiten
würdest, statt mit Paul und mir.«
»Aber meine
geistige Gesundheit nicht«, murrte Steffen halb entrüstet, halb belustigt. »Ich
meine – Tanja-hast-du-schon-den-letzten-Artikel-in-dem-International-Society-of-Limnology-Journal-gelesen-Meierhof? Nein,
wirklich nicht!« Er schüttelte sich wie ein junger Hund.
Leif grinste,
zog die Knie an den Körper und legte das Kinn darauf ab. Sie waren schon ein
seltsames Dreiergespann. Während Paul und er bereits in der ersten Studienwoche
gemeinsam über den Campus geirrt waren, hatten sie sich erst nach dem
Grundstudium über ein gemeinsames Praktikum im Labor mit Steffen zusammengetan.
Davor hatte Leif ihn als zu langweilig und auch zu spießig empfunden, als dass
er sich näher mit ihm beschäftigt hätte.
Er hatte ihn für
einen lahmen Streber gehalten. Sein erster Eindruck hatte ihn gehörig
getäuscht, denn hinter der ruhigen Fassade wohnte ein wacher Geist mit einem
großen Herzen. Vor allem aber war Steffen unerschütterlich loyal, wenn er einen
Menschen erst einmal zum Freund ernannt hatte.
Die ruhige und
freundliche Art schien bei Steffen in der Familie zu liegen. Letzten Herbst
hatte Leif Steffens Vater kennengelernt und auch bei diesem entdeckt, dass
Freundlichkeit nicht mit Langweiligkeit gleichzusetzen war. Vater und Sohn
teilten denselben bösen Humor, der sich nur in leisen Bemerkungen am Rande
manifestierte, aber meistens genau ins Schwarze traf.
Bei aller
Sympathie war auch etwas in Leif hochgekrochen, das wie Sehnsucht schmeckte,
als er sah, wie die beiden miteinander umgingen. Ja, sein eigener Vater konnte
auch freundlich und aufgeschlossen sein. Er konnte scherzen und selbst Tadel in
einem wohlwollenden Ton hervorbringen. Nur hatte er es Leif gegenüber nie
getan.
Sommer 1997
»Das traust du
dich nie!«, prustete Sam.
Triumphierend
hielt er den Apfel, von dem er gerade abgebissen hatte, in die Höhe. Saft lief
ihm übers Kinn und kleine Apfelstückchen flogen ihm bei seinem Ausruf aus dem
Mund. Leif wusste nicht, ob er lachen oder wütend sein sollte. Er wusste
genauso gut wie Sam, dass er Schiss vor Höhen hatte. Gut, der Apfelbaum im
Garten war nicht wirklich hoch, er war sogar deutlich niedriger als der Baum,
in dem ihre Väter vor einigen Jahren das Baumhaus errichtet hatten, aber aus
irgendeinem Grund, der Leif schleierhaft war, ängstigte ihn das freie Klettern
in den Ästen.
Er war sauer auf
Sam, weil dieser ihn damit ärgerte. Gleichzeitig wusste er, dass sein Freund es
nicht böse meinte. Nein, Sam würde sogar noch weiter hochklettern, um ihm einen
besonders schönen Apfel mitzubringen.
Leifs Magen
knurrte leise. Natürlich hätten sie auch reingehen können, um sich etwas zu
essen zu holen, doch das hätte ihrem Spiel ein Ende bereitet. Die niedrig
stehende Sonne verriet Leif auch so, dass Sams Mutter ihn bald nach Hause rufen
würde.
Im Ort waren
Leif und Sam bekannt dafür, allerlei Unsinn anzustellen und sich mit Vorliebe
in den Gärten und Schuppen der Nachbarn herumzutreiben, in denen sie nichts zu
suchen hatten. Oft genug waren sie in Situationen gekommen, von denen sich Leif
nicht erklären konnte, warum er sich wieder von Sam hatte überreden lassen, so
einen Bockmist zu bauen. Natürlich stellte sich Leif diese kritischen Fragen
erst dann, wenn er glaubte, seine Lungen würden explodieren, weil sie den Hund
von Bauer Schwertmann einmal zu oft geärgert und dabei übersehen hatten, dass
die hohe Gartenpforte offen stand.
Wütend ballte
Leif die Hände an seinen Seiten zu Fäusten. Er wollte nicht dastehen wie ein
Feigling. Dass Sams Kommentar viel zu nah an der Wahrheit lag, verschlimmerte
die Sache noch. Gleichzeitig flüsterte seine innere Stimme ihm zu, dass es
unvernünftig war, auf den Baum zu klettern. Sein Vater hatte sie davor gewarnt,
weil die heftigen Gewitter des vergangenen Wochenendes die alten Äste brüchig
gemacht hatten. Leif mochte diese Stimme der Vernunft nicht. In Wahrheit war
sie seine Feigheit, die die Worte der Erwachsenen nutzte. Worte, die Sam nicht
gelten ließ.
»Komm doch, komm
doch!«, feixte Sam in einem nervtötenden Singsang, pflückte einen noch unreifen
Apfel und warf ihn nach Leif. Der musste nicht mal ausweichen, denn Sam hatte
nicht richtig gezielt. Der Apfel prallte mit einem hohlen Geräusch auf den von
langem Gras bedeckten Boden und blieb vor Leifs Füßen liegen. Am liebsten hätte
er ihn Sam an den Kopf geworfen. Und Leif hätte nicht danebengezielt.
Er schnaufte
leise, dann ging er zum Stamm und legte entschlossen die Hand auf den
Aststumpf, der es einem mit etwas Anstrengung und Geschick ermöglichte, auf den
Baum zu klettern. Noch vor einem Jahr hatten weder er noch Sam den Ast
erreicht, aber sie beide waren in den letzten Monaten so sehr gewachsen, dass
Samuels Mutter mit dem Abändern seiner Hosen kaum hinterherkam.
Sam lachte hell
auf und vertrieb damit Leifs düstere Gedanken. Und obwohl Leif noch sauer auf
ihn war, konnte er sich ein Grinsen nicht verkneifen. Blödkopf. Dem würde er es
zeigen! Er durfte einfach nicht nach unten sehen, damit die Tiefe nicht diesen
seltsamen Sog entwickelte, der ihm schwindlig werden ließ. Beim Baumhaus
klappte es ja auch, wenn er erst mal auf der sicheren Plattform stand.
Ein weiterer
Apfel kam auf ihn zugeflogen, klein und grün.
»Das wirst du
büßen!«, rief Leif, während er sich auf die erste große Astgabel hievte.
Hier hatte er
noch kein Problem, die Äste waren knorrig und dick genug, sein Gewicht zu
tragen. Die raue Rinde schabte über die Haut am Knie, als Leif sein Gewicht
verlagerte und sich vorsichtig aufrichtete, um einen breiteren Ast zu fassen zu
bekommen, an dem er sich festhalten konnte.
Zittern und ein
Rascheln verrieten ihm, das Sam sich weiter bewegte, um genügend Abstand
zwischen sie zu bringen. Leif wurde leicht flau. Er schluckte und zwang sich,
nicht nach unten zu sehen. Stattdessen konzentrierte er sich auf seine Hände,
die den Ast fest umschlossen hielten. Seine Fingerknöchel traten weiß hervor.
Innerlich verfluchte Leif sich und seinen blöden Stolz. Warum ließ er sich
immer von Sam foppen? Und die dummen Äpfel waren immer noch zu weit weg,
zumindest die guten.
Erneut zitterte
der Baum, dann ertönte ein Knacken, bei dem ihn eine Gänsehaut überlief. Sam
hatte sich weit nach oben vorgewagt, der Ast unter seinen Füßen war lächerlich
schmal.
»Oh-oh.« Selbst
jetzt noch war der Schalk nicht gänzlich aus Sams Stimme gewichen.
»Sam, verdammt,
komm zurück! Der Ast ist zu dünn!«
Leif erstarrte.
Nur zu deutlich spürte er die Tiefe unter sich. Es waren vielleicht nur zwei
bis drei Meter, aber auch aus dieser Höhe konnte ein Sturz wirklich schmerzhaft
sein.
Wie es nicht
anders zu erwarten gewesen war, ignorierte Sam sowohl die Gefahr als auch Leifs
Bitte. Er hangelte nach einem Apfel, dessen eine Hälfte im warmen Licht rot
glänzte.
Schneewittchenapfel, kam es Leif in
den Sinn.
Leif hörte ein
Knarzen, dann ein Splittern und Krachen. Sam schnappte hörbar nach Luft, als
der Ast unter seinen Füßen nachgab. Ein Ruck lief durch seinen Körper, als er
nach unten sackte und nur noch mit einer Hand am Ast baumelte. Nach einem bedrohlichen
Knacken entschied sich Sam loszulassen.
Leif konnte
nicht verhindern, dass er kurz die Augen zusammenkniff, als sein Freund fiel.
Mit einem dumpfen Aufprall landete Sam im Gras und blieb regungslos liegen.
»Sam! Alles
okay?«
Stille. So
schnell es ging, kletterte Leif den Baum hinunter und lief mit wackligen Knien
zu Sam, der flach auf dem Rücken lag. Eine kleine Schramme zierte seine Wange,
seine Augen waren geschlossen.
»Sam?«
Leicht rüttelte
Leif seinen Freund an der Schulter. Sein Herz klopfte zum Zerspringen. Mist,
Mist, Mist!
»Komm schon,
Sam.«
Hektisch blickte
Leif sich um. Weder Samuels Mutter noch einer der Nachbarn war zu sehen. Leifs
Mutter war mit Tilda bei dem Geburtstag einer Kindergartenfreundin. Einmal
brauchte man einen Erwachsenen und dann war keiner da! Leif beugte sich über
Sam und legte seine Hand auf dessen Brust und fühlte den schnellen Herzschlag.
Für einen kurzen Augenblick durchströmte Leif Erleichterung, dann erschreckte
er sich zu Tode, als Sam mit einem Wahhrrr! auffuhr und ihn packte. Er hatte kaum Zeit zu reagieren,
da war Sam schon über ihm. Wild strampelte Leif und versuchte sich zu befreien.
»Du scheiß
Pisser!«
Sie rollten sich
durchs Gras, Leif fluchend und Sam lachend. In seiner Wut sprang Leif nicht
gerade zimperlich mit Sam um. Ein harter Schlag in die Seite trieb seinem
besten Freund das Lachen aus dem Gesicht.
»Au! Hör auf!«
Leif grunzte nur
und nutzte seine momentane Überlegenheit, um Sam die Arme an den Seiten
festzuhalten. Er war etwas größer und schwerer als sein Freund, doch nur selten
schaffte er es, bei ihren Rangeleien die Oberhand zu gewinnen. Sam konnte sich
winden wie ein Aal.
»Gibst du auf?«
Samuels Antwort
bestand darin, wild gegen ihn anzukämpfen. Mühsam hielt Leif ihn auf den Boden
gepresst. Er atmete schwer, und doch rauschte Siegesgewissheit durch ihn
hindurch.
»Ich lass dich
nicht eher los«, japste Leif, »bis du es sagst.«
Samuels braune
Augen funkelten ihn zwischen seinen zu Schlitzen verengten Lidern an. Dann
stieß er ein Schnaufen aus und gab seine Gegenwehr auf. Misstrauisch blickte
Leif auf seinen Freund hinab. Seine Finger lockerten sich nicht, noch nahm er
sein Gewicht von dem Körper unter ihm.
Fordernd hob er
eine Augenbraue. Das war eine Sache, auf die er mächtig stolz war, auch, wenn
er es niemals zugeben würde. Er hatte monatelang geübt, bis es ihm gelang, die
rechte Braue deutlich emporzuziehen. Leif wusste, dass Sam ihn darum beneidete.
»Du bist ein
Idiot.«
Leif grinste und
rollte sich von Sam hinunter. Es roch nach Gras und Äpfeln und ein klein wenig
nach ihrem Schweiß. Die letzten Sonnenstrahlen kitzelten seine Nase und Leif
war rundum zufrieden.
Später am Abend
war die friedliche Müdigkeit, die Leif dort auf dem Rasen gespürt hatte, einem
nagenden Gefühl in seinem Magen gewichen. Sein Vater war von der Arbeit nach
Hause gekommen und bei seiner abendlichen Zigarette auf der Terrasse war ihm
natürlich der lädierte Apfelbaum aufgefallen.
»Kannst du nicht
einmal machen, was ich
dir sage? Ist das so schwer? Dir hätte etwas passieren können! Oder Samuel! Und
der Baum sieht schlecht aus, es könnte gut sein, dass wir ihn abholzen müssen,
denn so übersteht er den nächsten Sturm bestimmt nicht, geschweige denn den
Winter.« Wütend schüttelte Leifs Vater den Kopf. »Du hast eine Woche Hausarrest.«
Leif hatte bei
der Strafpredigt den Kopf gesenkt, doch nun schnellte sein Blick nach oben. Das
konnte sein Vater doch nicht machen! Das war fast der ganze Rest der
Sommerferien. Was sollte er denn hier drinnen, ohne seine Freunde, ohne Sam?
Seine Eltern waren streng, aber Hausarrest wegen eines abgebrochenen Astes? Das
war selbst für seinen Vater hart.
»Aber...«
Sein
aufkeimender Protest wurde durch einen Blick seines Vaters erstickt. »Du musst
endlich begreifen, dass deine Aktionen auch Konsequenzen haben! Immer wieder
stellen du und Sam was an, die Nachbarn beschweren sich über euch. Und gerade
Kari machst du es dadurch noch schwerer.«
Leifs Vater
atmete tief ein und verschränkte die Arme vor der Brust. Bei seiner
Strafpredigt hatte er Leif mit stechenden Blicken bedacht, nun wandte er sich
ab und seine Schultern sackten merklich nach vorne.
»Ich bin
enttäuscht von dir, Leif.«
Leif wusste,
dass er nun gehen konnte. Fast alle Standpauken seines Vaters endeten mit
diesem Satz, ob sie nun schlechte Noten betrafen oder die Dinge, die er und Sam
mal wieder angestellt hatten. Und wie jedes Mal schienen ihn diese Worte
einzuschnüren.
Leif
protestierte nur noch selten, wenn sein Vater ihn ausschimpfte. Er erwähnte
auch nicht, dass Sam es gewesen war, der den Ast abgebrochen hatte. Ja, das
wäre Petzen gewesen, doch hätte Leif damit etwas erreicht, wäre sein Vater dann
milder gestimmt gewesen... er wäre versucht gewesen, Sam anzuschwärzen. Doch
Leif wusste, dass nichts seinen Vater davon abbringen konnten, von ihm
enttäuscht zu sein. Wieder einmal.
Am nächsten
Abend fand Leif sich in einer ähnlichen Situation wieder, nur mit Sam an seiner
Seite. Der hatte ihn davon überzeugt, dass sie noch mal gemeinsam mit seinem
Vater reden sollten. Sie hatten heimlich durch das gekippte Küchenfenster
gesprochen. Sam hineinzuschmuggeln, hatte sich Leif nicht getraut.
Abwartend sah
Leifs Vater die Jungen an. Leif bemerkte, wie sich Sam neben ihm aufrichtete.
»Es ist nicht
gerecht, dass Leif Hausarrest bekommt. Ich bin als Erster auf den Baum
geklettert und ich war es, der den Ast abgebrochen hat.«
Trotz funkelte
in Samuels Augen. Leifs Vater schürzte die Lippen.
»Ist das wahr,
Leif?«, fragte er.
Leif nickte
zögernd.
»Und warum hast
du mir das nicht gesagt?«
»Du hättest mir doch
eh nicht geglaubt«, rutschte es Leif heraus.
Mist! Er hätte
etwas anderes antworten sollen, vielleicht, dass er nicht petzen wollte. Denn
diese Antwort verärgerte seinen Vater. Er konnte es an dem harten Zug um seinen
Mundwinkel sehen, an den zusammengezogenen Augenbrauen.
»Und was
schlägst du nun vor, Samuel? Denn immerhin hat Leif ja mitgemacht. Und Bescheid
gegeben, dass der Baum beschädigt ist, hat er auch nicht.«
»Ich hab's
vergessen!« Leifs Wangen färbten sich rosa, er ballte die Hände zu Fäusten. Er
hasste es, wenn sein Vater über ihn sprach, als sei er nicht anwesend.
Sam neben ihm
ignorierte seinen Einwurf genauso wie sein Vater. »Es ist ungerecht. Wenn, dann
müsste ich Stubenhocken«, beharrte er.
»So, wie ich
deine Mutter kenne, würde sie das nicht befürworten«, sagte Leifs Vater und
kurz erschien die Andeutung eines Lächelns auf seinem Gesicht.
Leif fragte
sich, warum seine Mutter eigentlich nichts gegen die Entscheidung seines
Vaters gesagt hatte. Es war nicht so, dass sie sich von ihm herumkommandieren
ließ. Also waren sie wohl beide enttäuscht von ihm. Ein schweres Gefühl
breitete sich in seinem Magen aus.
»Dann denken Sie
sich eben eine andere Strafe für mich aus«, forderte Sam.
Leif hätte nie
in einem solchen Ton mit seinem Vater gesprochen und er glaubte nicht, dass
dieser Sam seine Frechheit durchgehen lassen würde. Sam machte alles nur noch
schlimmer!
In Erwartung des
kommenden Donnerwetters sah Leif zu seinem Vater hoch. Doch er musste
überrascht feststellen, dass dieser grinste.
»Na gut. Ich
werde Bauer Schwertmann fragen, ob ihr ihm zur Hand gehen könnt. Ihr werdet ihm
eine Woche helfen, die Tiere füttern, Streuobst sammeln, was weiß ich. Und wenn
mir zu Ohren kommt, dass ihr euch auch nur eine einzige Dummheit leistet, seht
ihr euch die nächsten zwei Monate außerhalb der Schule gar nicht mehr.«
Leif schluckte.
Der alte Schwertmann war nicht gerade gut auf sie zu sprechen, zu oft schon
hatten sie Unfug auf seinem Hof und den Obstwiesen angestellt. Das würde kein
Zuckerschlecken werden, da war er sich sicher.
Prüfend wurden
sie von Leifs Vater gemustert.
»Also, Samuel,
ist das eine Strafe nach deinem Geschmack?«, fragte er lauernd.
»Das ist ganz
schön hart.« Sam hob beschwichtigend die Hand, als Leifs Vater auffahren
wollte. »Aber ich denke, es ist in Ordnung.«
Leifs Vater
lachte laut auf und die ärgerliche Spannung fiel von ihm ab. Er trat zu Sam und
wuschelte ihm mit der Hand durch die Haare, dann gab er Leif einen kleinen
Schubs.
»Ab mit euch.
Und ab morgen helft ihr dem Bauern!«, rief er ihnen hinterher, als sie schon
aus dem Wohnzimmer rannten. Leif blickte nicht zurück, froh, seinem Vater und
seinen strengen Augen entronnen zu sein.
~~~
»Hey ihr
Faulpelze! Ihr könntet euch mal nützlich machen«, riss Pauls Stimme Leif aus
seinen Erinnerungen.
Er blinzelte und
Steffen neben ihm schnaubte eine Rauchwolke. Paul stand am Kopfende des
Schlauchbootes, das die letzten Meter bis zum felsigen Ufer glitt. Harkonsen
hatte ihnen den Rücken zugedreht und trieb das Boot mit sachten Ruderschlägen
voran.
»Wir durchdenken
hier wichtige wissenschaftliche Probleme«, konterte Steffen.
»Hör auf zu
quatschen und fang lieber das Seil!«, rief Paul.
Mit einem
gemurmelten Fluch erhob sich Steffen und kletterte ungelenk über die Felsen.
Mit Gummistiefeln war das wirklich kein Vergnügen. Auch Leif half dabei, das
Boot anzulanden und die Wasserproben entgegenzunehmen.
Paul und Steffen
hatten noch genug mit dem Fixieren ihrer Proben zu tun, sodass Leif Harkonsen
und Sam zur Hand ging, die gebrauchte Geräte reinigten und in den Fässern
verstauten. Danach machten sie sich an den Aufbau ihres Lagers.
Eine gute Stunde
später waren ihre Zelte aufgestellt und Samuel hatte einen Gaskocher und
Campinggeschirr ausgepackt. Auf ein wärmendes Lagerfeuer mussten sie hier oben
wegen des Mangels an Holz verzichten. Drei Packungen mit Nudeln und Soßenpulver
wurden mit Seewasser aufgesetzt und langsam erhitzt. Bis auf einen Müsliriegel
hatte Leif nichts mehr gegessen, sodass sein Magen laut knurrte, als sich der
Geruch des Essens verbreitete. Sam, der zusammengekauert neben dem Gaskocher
hockte, blickte auf und grinste ihn an.
Leif war froh,
als sich die anderen dazugesellten. Die ersten Minuten ihrer Mahlzeit
verbrachten sie in gefräßigem Schweigen. Als der gröbste Hunger gestillt war,
tauschten sie sich über ihre Ergebnisse beim Sammeln der Proben aus. Wie es
schien, hatte vor allem Paul einen lustigen Nachmittag auf dem See verbracht,
da Harkonsen ihn mit allerlei Geschichten der Expeditionen zum Speilhav unterhalten
hatte.
Auf allgemeine
Forderungen gab Harkonsen einige der Anekdoten zum Besten. Von verschluderten
Proben und ins Wasser gefallenen Wissenschaftlern, von verdrehten Werten und
daraus folgender Verwirrung und von einem Vielfraß, der in der Nacht die
Lebensmittel des Lagers geplündert und überall seine übelriechenden Duftmarken
hinterlassen hatte – so auch auf Harkonsens Fleecejacke, die er zum Trocknen
auf einen Felsen gelegt hatte.
Die Zeit
verflog, während Harkonsen erzählte. Die Kälte kroch heran, sie setzten noch
einen Tee auf und wickelten sich fester in ihre Jacken. Paul holte unter Leifs
spitzen Bemerkungen sogar seinen Schlafsack hervor und mummelte sich darin ein.
Sie lauschten interessiert den Geschichten über Trolle und Verwandlungen, zu
denen Harkonsen übergegangen war, während die Nacht über sie hereinbrach.
Irgendwann hatte Harkonsen genug davon, den Alleinunterhalter zu mimen.
»Nei, nun seid ihr
dran!«, wehrte er lachend ihre Forderungen nach mehr Geschichten ab.
»Samuel, du
kennst doch bestimmt noch mehr Geschichten?«, fragte Steffen. »Euch Norwegern
liegt das Geschichtenerzählen doch angeblich im Blut, oder?«
Sam war den
Abend über still gewesen, hatte aber oft in seinen Teebecher gegrinst, wenn sie
sich mit ihren Kommentaren zu den Trotteligkeiten vorheriger
Expeditionsteilnehmer überschlagen hatten. Nun sah er Steffen einen Moment
perplex an, dann verschloss sich seine Mimik.
»Nein, ich kenne
keine Geschichten«, sagte er und schüttelte bedauernd den Kopf, ehe er sich
erhob, um das dreckige Geschirr einzusammeln
Du lügst, dachte Leif.
»Doch als die
Leute aus dem Dorf das Grab erneut öffneten, um der jungen Mutter ihr totes
Baby in die Arme zu legen...«
Die Taschenlampe
beleuchtete Samuels Gesicht nur unzureichend und verzerrte seine Züge zu einer hässlichen
Fratze.
Leif saß ihm
gegenüber im Bett, die Decke bis zu den Ohren hochgezogen. Draußen schüttelte
ein Herbststurm die kahlen Äste, sodass sie manchmal mit einem fiesen
Quietschen über die Fenster kratzten.
»... da waren
ihre Kleider zerrissen und ihre Finger blutig gekratzt«, flüsterte Sam mit
leiser Stimme.
Eine Gänsehaut
überzog trotz des warmen Nestes, das sie aus Decken und Kissen gebaut hatten,
Leifs Unterarme. Es war ihm etwas peinlich, aber er fürchtete sich wirklich.
Nicht vor der Geschichte von der lebendig begrabenen Frau, denn er kannte sie,
immerhin erzählte Sam sie nicht zum ersten Mal. Außerdem war er schon zwölf, da
musste man sich vor so etwas nicht mehr fürchten. Vielleicht lag es an Samuels
Stimme, die so seltsam wisperte, und an der Taschenlampe, die seine Augen zu
schwarzen Höhlen werden ließ, aber niemand konnte so gut Gruselgeschichten
erzählen wie sein bester Freund.
Leif liebte es,
wenn Sam erzählte, und dieser tat es gern. Gruselige und fantastische
Geschichten vor allem. Oder Geschichten über Leute, die sie kannten. Manchmal
fragte er sich, ob ein paar von Samuels Hirngespinsten nicht doch wahr sein
könnten. Ob Herr Kalbfleisch, der Sportlehrer mit Schnauzbart und Plauze, nicht
in Wirklichkeit ein unentdeckter Held war, der verkleidet und mit Superkräften
ausgestattet Menschenleben rettete.
Der Gedanke,
dass auch all die Gruselwesen, von denen Sam so gern erzählte, echt sein
könnten, bescherte Leif ein Schaudern. Er mochte keine Monsterinsekten, deren
Münder von wild zuckenden Tentakeln umwachsen waren. Ebenso verhielt es sich
mit hämisch kichernden Schatten, die zu niemandem zu gehören schienen.
»Komm, lass uns
auch schlafen gehen.«
Harkonsen und
Steffen waren Samuels Beispiel gefolgt und auch Leif erhob sich ein wenig
steif. Er war müde und fror. Samuel wusch gemeinsam mit Steffen das Geschirr in
einem kleinen Plastikzuber ab. Paul bemerkte Leifs Blick, der auf Samuel lag
und legte seinen Arm um Leifs Hüfte.
»Verstehen sich
ganz gut, die zwei«, meinte er leise.
Leif zuckte
unbestimmt mit den Schultern. Schon möglich, obwohl er Steffen eigentlich für
etwas zu nerdig hielt, als dass er Sam wirklich interessieren konnte. Im
nächsten Moment schalt er sich für den Gedanken. Was wusste er schon von Sam?
Und was ging es ihn an, mit wem er sich anfreundete? Nichts und noch mal
nichts.
»Bin jedenfalls
froh, dass ich mir kein Zelt mit Steffen teilen muss, bei seinem Geschnarche«,
sagte Leif.
Pauls Arm zog
ihn etwas dichter zu sich heran. »Ich für meinen Teil bin froh, mein Zelt mit dir zu teilen.«
Leif verdrehte
die Augen und lachte. »Mach dir keine Hoffnungen, mein heterosexueller Freund.
Ich bin zu alt für Sex beim Camping.«
»Schade«,
seufzte Paul in gespieltem Bedauern und fing sich dafür einen Schubs von Leif
ein, der ihn in Richtung Zelt beförderte.
Aus dem
Augenwinkel sah Leif, dass Harkonsen unbemerkt schräg hinter ihnen stand. Im
Gegensatz zu seinem heiteren Lachen am Lagerfeuer lag nun ein ernster, fast
grimmiger Zug um seinen Mund. Kurz fragte sich Leif, ob er genug Deutsch
sprach, um Pauls anzügliches Geplänkel zu verstehen. Leif hoffte inständig,
dass sich hinter Harkonsens freundlichem Auftreten nicht doch ein homophobes
Arschloch verbarg. Ein unangenehmer Schauer rann ihm bei diesem Gedanken über
den Rücken. Er wandte sich hastig ab und ging Paul hinterher.
Unruhig drehte
sich Leif auf die Seite und versuchte, Paul dabei nicht zu wecken. Sein
Schlafsack rutschte auf der Isomatte umher, der Pullover, den er als Kopfkissen
nutzte, drückte unangenehm an einer blöden Stelle und nervte ihn zu Tode.
Graues Dämmerlicht drang durch die Zeltwände. Leif warf einen Blick auf die
Uhr, deren Zeiger grüngelblich schimmerten. Fast halb fünf, noch eineinhalb
Stunden, in denen er schlafen konnte… und sollte. Er ruckelte sich zurecht und
versuchte, sich zu entspannen. Vergeblich.
Leif fluchte
leise. Er war von der vorherigen Nacht und dem anstrengenden Tag vollkommen
gerädert. Eine weitere Nacht, die durchsetzt war mit düsteren Träumen und
darauffolgender Schlaflosigkeit, war wirklich das Letzte, was er gebrauchen
konnte. Doch wie es aussah, gestaltete sich diese Nacht genauso wie die vorige.
Leif hatte bereits vor dem Einschlafen geahnt, dass er im Traum ertrinken
würde. Immerhin war es ein ziemlicher Schock gewesen, als er den See erblickt
hatte, der dem aus seinem Traum so verdammt ähnlich gesehen hatte.
Es half leider
nicht, dass Leif im wachen Zustand wusste, dass es sich um einen Traum
handelte. Jedes Mal aufs Neue litt er Todesängste. Er war mit einem lauten
Keuchen aufgewacht, orientierungslos. Hatte Paul aus dem Schlaf gerissen, der
erst nicht verstand, was geschehen war. Als Paul begriffen hatte, dass ihr Zelt
gerade nicht attackiert wurde, hatte er sich mit einem Stöhnen zurück auf die
Isomatte fallen lassen. Leif hingegen war sitzen geblieben, sein Blick war
unstet im dunklen Zelt umhergeirrt, als wollte er sich vergewissern, wach zu
sein.
Erst, als Paul
mit einem leisen Brummeln die Hand nach ihm ausgestreckt und einfach auf seinem
Schlafsack liegen gelassen hatte, war Leif ruhiger geworden. Der Traum suchte
ihn nie mehr als einmal in einer Nacht heim. Dennoch war sein Schlaf danach
ruhelos gewesen, als hätte sein Geist Muskelkater von seinem imaginären
Todeskampf.
Leise richtete
sich Leif auf und rieb sich den schmerzenden Nacken. Der Schlafsack rutschte
von seinen Schultern und ließ ihn frösteln. Er wollte Paul nicht ein zweites
Mal wecken, also griff er sich den als Kopfkissen untauglichen Pullover und
streifte ihn sich über. Der Reißverschluss des Zeltes sirrte, frische Nachtluft
schlug ihm ins Gesicht. Hinter ihm murmelte Paul etwas im Schlaf und Leif
beeilte sich, das Zelt zu verlassen. Seine Wanderstiefel waren eisig, als er
hineinschlüpfte und die verknäulten Schnürsenkel einfach in den Schaft schob.
Über ihm spannte
sich der Himmel in einem tiefen Kobaltblau. Hinter den östlichen Bergen wurde
es bereits hell, doch hier in der Senke herrschte noch graues Zwielicht.
Dementsprechend vorsichtig bewegte sich Leif, als er hügelaufwärts eine Stelle
suchte, an der er sich erleichtern konnte. Als er zu den drei geduckten Zelten
zurückkehrte, konnte er Steffens Schnarchen vernehmen.
Mit einem
Seufzen blickte Leif in Richtung des Sees und erstarrte, als er bei einigen
höheren Felsen in der Nähe des Wassers eine Bewegung wahrnahm. Etwas Großes
schlich dort umher. Unwillkürlich fragte er sich, ob es hier oben, fernab von
größeren Wäldern, nicht doch Wölfe oder Bären gab. Und was zu tun wäre, im
Falle der Fälle. Seine Überlegungen wurden unterbrochen, als sich der dunkle
Schemen auf einem der Felsen aufrichtete. Seine Erleichterung wich leisem
Unbehagen, als er Samuels Umrisse erkannte. Er war versucht, in sein Zelt
zurückzukehren und sich weiter mit schmerzendem Rücken auf der Isomatte
umherzuwälzen.
Leif schalt sich
einen Feigling, dann suchte er sich kurz entschlossen einen Weg zum See
hinunter. Obwohl das Ufer kaum mehr als zwei Steinwürfe entfernt war, kam ihm
der Weg lang vor. Er war sich sicher, dass Samuel ihn schon längst bemerkt
hatte, denn Geröll und Kies rutschten manchmal unter seinen Füßen weg und
rollten mit leisem Klacken weiter. Dennoch drehte er sich nicht um, als Leif
den mannshohen Felsen emporkletterte und sich neben ihn setzte.
Es war eine
schöne Stelle, um auf den See hinaus zu blicken. Samuel hatte die Knie aufgestellt
und die Arme darum geschlossen. Leif tat es ihm gleich und musste sich zwingen,
nach vorne auf die ihn umgebende Landschaft zu sehen.
Es war
verlockend, Sam zu betrachten. Seine Züge im Zwielicht zu erforschen, wie Leif
es schon als Teenager getan hatte, wenn der andere still neben ihm schlief. Er
könnte Vergleiche anstellen, sich auf die Suche begeben nach dem, was von dem
Jungen übrig geblieben war, den er geglaubt hatte zu kennen wie keinen anderen
Menschen.
Sie schwiegen
lange und beobachteten, wie die Helligkeit hinter den Bergen zunahm. Es war ein
seltsam einträchtiges Schweigen und das erste Mal verspürte Leif in Samuels
Gegenwart nicht den Impuls davonzulaufen. Oder ihm die Fresse zu polieren.
Vielleicht war es diese Stimmung, die ihn genug Mut fassen ließ.
»Hey...«, begann
Leif ungelenk.
»Hör zu, ich...«
Samuels Stimme war viel zu laut in der Stille. »Was damals passiert ist...«
Ein heißer
Schwall Panik kochte in Leif auf, sodass er Sam ins Wort fiel.
»Nein, hör du
mir zu. Ich will nicht darüber reden, okay?«
Sam wandte das
erste Mal den Kopf und sah Leif erstaunt an. Dieser starrte angestrengt
geradeaus. Es war ihm selbst nicht bewusst gewesen, aber – er wollte wirklich
nicht über ihre Trennung sprechen.
»Aber...«
Vehement
schüttelte Leif den Kopf.
»Ich mein das
ernst. Lass uns... Können wir nicht einfach Small Talk machen oder so?«
Sam schnaubte
leise und der Laut kroch Leif unter den Pullover. Wie eine kleine Ratte, die
Zuflucht in seinem Ärmel suchte und seinen Arm hinauflief.
»Und über was
willst du dann sprechen?«, fragte Sam und die Belustigung schwang in seiner
Stimme mit.
Die Ratte hatte
Leifs Schlüsselbein erreicht. Er zuckte mit den Schultern, als ob er sie damit
loswerden könnte.
»Keine Ahnung...
Warum bist du hier? Was macht deine Mutter? Geht es ihr gut? Magst du immer
noch keinen vergammelten Fisch?«
Jetzt lachte Sam
und Leif konnte nicht anders, als ihn anzusehen. Die Ratte rutschte seine Brust
hinab zu seinem Bauch und zappelte.
»Nein, ich kann Rakfisk immer noch nichts
abgewinnen. Widerlich!«
Sam gluckste
leise, dann wurde er wieder ernst.
»Kari geht es
gut. Sie hat noch mal geheiratet, vor drei, nein, vier Jahren. Wusstest du
das?«
Leif schüttelte
den Kopf. Seitdem Samuels Mutter zurück nach Norwegen gezogen war, war der Kontakt
der beiden Familien gänzlich abgerissen. Dabei hatten sie sich einmal sehr
nahegestanden. Samuels und seine Eltern hatten sich erst ein gutes Jahr vor
ihrer Geburt kennengelernt. Trotz des Altersunterschiedes – Samuels Eltern
hatten sehr jung geheiratet – hatten sie sich schnell angefreundet. Dieser
Freundschaft verdankte Leif seinen Namen, denn eigentlich hatte Samuel ihn
bekommen sollen – und anders herum.
Kurz fragte sich
Leif, ob ihre Bindung deswegen so eng gewesen war. Er blinzelte irritiert. Er
war kein spiritueller Mensch, glaubte nicht an Übersinnliches und hatte auch
nichts für fantastische Geschichten übrig. Nicht mehr.
Samuel rutschte
etwas auf dem Stein umher und streckte sich, sodass er die Beine über den Rand
des Felsens baumeln lassen konnte.
»Ich glaube, sie
ist glücklich«, sagte er leise, dann lächelte er. »Ja, bestimmt. Aslak ist ein
guter Mann. Sie leben unten bei Stavanger im Haus meines Großvaters.«
Leif erinnerte
sich verschwommen an Urlaubsfotos der Wahlstroms, auf dem ein weißes Haus mit
dunklen Fensterrahmen zu sehen war, umgeben von einem großen Garten. Er gönnte
Kari Wahlstrom ihr spätes Glück. Sie hatte es sicher mehr als verdient. Samuels
Mutter war eine sanfte Frau, die stets ein leichtes Lächeln auf den Lippen
getragen hatte. Leif konnte sich nur noch verschwommen daran erinnern, denn sie
hatte ihr Lächeln kurz vor Samuels sechstem Geburtstag verloren.
Samuels Vater,
Andreas Wahlstrom, starb mit nur sechsundzwanzig Jahren an Herzversagen. Leif
erinnerte sich noch genau an den Widerschein der Lichter des Krankenwagens auf
Karis tränennassen Wangen. Ein kalter Morgen war es gewesen, als die völlig
aufgelöste junge Frau an ihrer Haustür Sturm geklingelt hatte.
Leif dachte
daran, wie Samuels Mutter sich an ihren Sohn geklammert hatte, ihre Hand viel
zu fest in sein dunkles Haar gekrallt. Samuels Augen, weit aufgerissen,
unverständig. Die Kühle an Leifs Seite, als sein eigener Vater ihn wegschob, um
Kari und Samuel festzuhalten. Hilflos.
Sein Vater
konnte die Lücke an ihrer Seite nicht ausfüllen und doch kam es Leif heute so
vor, als hätte er es seitdem stets versucht. Seine Mutter hatte stumm
zugesehen, die schlafende Tilda auf dem Arm, fest in ein Tuch gewickelt.
Leif drängte die
traurigen Gedanken beiseite und lächelte zaghaft. Es fühlte sich komisch an.
»Schön, dass es
ihr gut geht. Seht ihr euch oft?«, fragte Leif.
Er hatte kurz
den Eindruck, als würde Sam sich verspannen, doch dessen Stimme klang
beiläufig, als er antwortete. »Ja, schon, dann und wann.«
Kühler Wind strich
die Bergkuppe hinab und zerzauste Samuels Haare. Eine Gänsehaut kroch über
Leifs Rücken und er fröstelte. Auch ein Gähnen konnte er nicht unterdrücken.
»Warum bist du
um die Uhrzeit hier draußen?«, fragte Sam.
»Konnte nicht
mehr schlafen.«
»Schlecht geträumt?«
Misstrauisch sah
Leif sein Gegenüber an. »Scheiß Isomatte und noch schlechteres Kopfkissen.«
Samuel Zähne
leuchteten hell im Dämmerlicht auf, als er grinste.
»Ja, da muss man
sich dran gewöhnen.«
»Und du?«,
fragte Leif.
Samuel blickte
in Richtung der aufgehenden Sonne, die ihre ersten Strahlen über die Grate der
Berge schickte.
»Ich bin oft
früh wach. Brauch nicht so viel Schlaf.«
Ein Lächeln
spielte um Samuels Mundwinkel, das Leif nicht verstand. Er zog die Brauen
zusammen.
»Komisch. Du
warst ein totaler Morgenmuffel, früher«, sagte er und bereute es im selben
Moment.
Er hatte die
Vergangenheit nicht anschneiden wollen. Und erst recht nicht das Bild
heraufbeschwören, das er mit seiner Aussage verknüpfte. Sam. Morgenschön. Und
schlecht gelaunt.
Sommer 2003
Es war zu heiß
und zu stickig. Sonntagmorgen. Oder Mittag. Träge richtete sich Leif auf und
warf einen Blick auf den uralten braunen Radiowecker auf dem Nachttisch. Kurz
vor zwölf. Unten im Haus hörte er Kari am Telefon sprechen. Er verstand nicht,
was gesagt wurde, der Klang und die Melodie verrieten ihm aber, dass sie
Norwegisch sprach. Ein Anruf aus der Heimat also.
Leif strampelte
die dünne Decke weg. Sein Kopfkissen war schweißfeucht und er fühlte sich
klebrig. Er wollte aufstehen und das Fenster öffnen, damit es wenigstens nicht
mehr so stickig im Zimmer war, doch er stockte mitten in der Bewegung, als Sam
im Schlaf leise schnaufte.
Er sah zerzaust
aus und hatte Schatten unter den Augen. Kein Wunder, immerhin hatten sie
gestern bis halb eins bei Timo gezockt. Und Timos Eltern sahen das mit dem Bier
nicht so eng. Jedenfalls war Leif nach seinem dritten ganz schön angesäuselt
gewesen. Sam hatte nur eins getrunken. Ein etwas schadenfrohes Lächeln huschte
über Leifs Züge. Offensichtlich war sein Freund nicht sonderlich trinkfest.
Wie fast jede
Nacht in den Ferien hatten sie beieinander übernachtet. Die ausklappbare
Gästematratze – ein Relikt aus den siebziger Jahren – war leider nicht gerade
bequem. Dennoch hatte er gut geschlafen. Erstaunlich gut sogar für seine
Verhältnisse. Verschwommen kitzelte ihn die Erinnerung an irgendeinen Traum,
der von der Schule gehandelt hatte, aber er konnte ihn nicht wirklich fassen.
Er streckte sich, dann wanderte sein Blick wieder zu Sam. Es war verrückt, wie tief
und fest dieser schlafen konnte. Leif hatte die Theorie, dass man unter Samuels
Bett Schlachten des zweiten Weltkrieges nachstellen konnte und er nicht wach
werden würde.
Immerhin wusste
Leif, dass er selbst allzu oft im Schlaf sprach oder mit einem Schrei auf den
Lippen aus dem Traum hochfuhr. Manchmal hörte er sich selbst schreien. Kein
schöner Laut.
Doch Sam ließ
sich von all dem nicht stören und schlief wie ein Toter. Verrückt. Und für das
Überleben in einem Internat, in dem man sich die Zimmer teilen musste,
wahrscheinlich gar nicht so übel.
Leif genoss es,
Sam ungehindert betrachten zu können. Seine Nasenspitze. Seine Mundwinkel. Die
geschlossenen Augen mit den dichten Wimpern. Er wusste, dass das schräg war.
Und dass er es wohl nicht so genießen sollte. Auch wenn ihm inzwischen
dämmerte, warum er es dennoch tat. Seine Träume und Fantasien waren ja
eindeutig genug.
Seit dem einen
Nachmittag an Weihnachten, als Sam und er sich hier oben gegenseitig einen
runtergeholt hatten, beschäftigte Leif die Frage, ob er nur scharf auf Sam war
oder ob er generell auf Männer stand. Er hatte seine Freunde und
Klassenkameraden unauffällig gemustert, vor allem die Jungs vom
Leichtathletik-Team. Und ja, es waren einige dabei, die gut aussahen. Es
prickelte anders, wenn er Oliver Burkinsky auf den nackten Bauch blickte, als
wenn er eines der Mädels studierte, die kokett die Haare nach hinten warfen und
Oberteile anzogen, die bei seinen Kumpels Kurzschlussreaktionen im Hirn
verursachten.
Er fand den
Gedanken beängstigend, schwul zu sein. Er hatte so ziemlich vor allem Angst in
diesem Zusammenhang. Dass es irgendwer merken könnte. Dass seine Freunde es
erfahren und sich von ihm abwenden könnten. Er hatte Angst vor der Reaktion
seiner Eltern, insbesondere vor seinem Vater. Stellte sich viel zu lebhaft vor,
wie sich dessen Gesicht in eine traurige Maske verwandeln würde.
Ich bin
enttäuscht von dir, Leif.
Ja, wieder
einmal.
Gleichzeitig
wollte er auch wissen, wie es wäre... Küssen. Mehr. Anderes. Knutschen.
Berühren und fühlen. Und immer, wenn Leif in diesen Träumereien festhing, schob
sich ein ganz bestimmter Protagonist in seine Fantasien.
Und das war
wirklich furchteinflößend. Leifs Reaktionen auf Sam waren schrecklich und schön
zugleich. Er wollte zu ihm kriechen, seine Nase an ihm reiben und seinen Geruch
in sich aufsaugen. Gerade so, wie er war. Ungeduscht. Sam-Duft. Jungengeruch.
Leif wollte ihn noch mal stöhnen hören – ein betörender Laut.
Was Sam hingegen
wollte – Leif hatte keine Ahnung. Er war ihm ein Rätsel. Manchmal legte er
vollkommen ungezwungen seinen Arm um Leif, dann wieder schien er jeder
Berührung aus dem Weg zu gehen. Außerdem kippte Samuels Stimmung oft schneller,
als dass Leif sich in Sicherheit bringen konnte. Dann bekam er eine Ladung
beißenden Spotts ab oder einfach nur ungnädiges Gebrummel. Meist konnte Leif
das ganz gut wegstecken – immerhin war er es ja seit einigen Jahren gewöhnt. Er
wollte auch nicht, dass Sam bemerkte, wenn er ihn mit einer seiner Bemerkungen
traf. Er wollte nicht schwach erscheinen. Nicht vor Sam. Gerade nicht vor ihm.
Denn wenn Sam den Schmerz in Leifs Augen aufflackern sah, nahm er reißaus.
Oder, noch schlimmer, er lächelte ihn an. Scheu und entschuldigend. Und
verpasste damit Leif ein Kribbeln im Bauch, das ihn erröten ließ.
»Was starrst du
eigentlich so?«
Leif zuckte
zusammen und sah in Sams vom Schlaf gerötetes Gesicht. Er musste grinsen, als
Sam sich aufrichtete.
»Du hast lustige
Kissenmuster im Gesicht.«
»Blödsack«,
grummelte Sam und stieg aus dem Bett, ohne ihn eines weiteren Blickes zu
würdigen.
Leif störte sich
nicht daran, denn er wusste, dass sein Freund ein ausgesprochener Miesepeter am
Morgen war.
Mit
zusammengekniffenen Augen stapfte Samuel grob über Leifs Matratze. Fast hätte
er ihn getreten, hätte Leif nicht die Füße angezogen und wäre ebenfalls
aufgestanden. Er ging zum Fenster und öffnete es weit. Die Luft, die nun ins
Zimmer strömte, roch deutlich frischer, war aber fast genauso warm.
Leif lehnte sich
etwas aus dem Fenster und warf einen Blick in ihren Garten. Er konnte Tildas
Stimme und das Quietschen einer ihrer Freundinnen hören. Das Planschbecken am
Fuße der Terrasse, in dem er die beiden Mädchen vermutete, konnte er aber von
hier aus nicht sehen.
Schwimmen... ja,
das wäre jetzt was. Vorzugsweise in einem kinderpissefreien Pool.
Leif drehte sich
zurück zu Samuel und erstarrte, als dieser sein schweißfeuchtes Shirt über den
Kopf zog. Dass sein Herz schneller schlug, wenn Samuels Schlüsselbein im
ausgeleierten Kragen seines Shirts aufblitzte oder sich ein Streifen blasser
glatter Haut zeigte, wenn er sich streckte, war Leif ja inzwischen gewöhnt.
Aber das hier war Folter.
Es war ein
halbes Jahr her, dass er Samuel ohne Shirt gesehen hatte. Sam war breiter
geworden, er hatte die letzten kindlichen Spuren hinter sich gelassen. Unter
seiner Kleidung sah er stets etwas mager aus. Wie sich nun herausstellte, war
das ein Irrtum. Zäh wäre wohl ein passendes Wort, schoss es Leif durch den
Kopf. Schlanke Muskeln zeichneten sich unter der Haut ab, beweglich und fest.
Es waren aber
nicht seine tanzenden Hormone, die Leif nach Luft schnappen ließen, als Sam
sich zu ihm umdrehte. Es war die rötliche Narbe, die sich auf der Länge einer
Handspanne diagonal über seine Rippen erstreckte. Unweigerlich trat Leif näher
an Sam heran, hob die Hand, als wollte er über das Narbengewebe streichen. Er
zögerte, seine Fingerspitzen schwebten so nah über Samuels Haut, dass er deren
Wärme spüren konnte.
»Was ist das?«,
fragte er rau.
Sam zuckte mit
den Schultern, wich Leifs fragendem Blick jedoch aus.
»Ich hab mich
beim Skaten langgemacht und das ist das Andenken des Bordsteins.«
Als Sam von ihm
zurücktreten wollte, hielt Leif ihn am Handgelenk zurück. Kritisch beäugte er
die Narbe, die ihn mehr an einen Schnitt als an eine üble Schürfwunde erinnerte.
Mit einen Ruck machte sich Sam los, schnappte sich ein Handtuch und ging
wortlos ins Bad.
Stumpf blickte
im Leif hinterher, doch statt der alten Holztüre, hinter der sich der winzige
Flur im Schatten verbarg, sah er das morgendliche Licht, das Samuels Rücken
erhellte. Es ließ mehrere feine Narben aufschimmern, fast unsichtbar, lange
verblasst. Er hatte sie noch nie gesehen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen