Kapitel 4
Das Labor wurde
nur noch vom Bildschirm seines Laptops, dem Licht des Mikroskops und einigen
kleinen Lämpchen an den Laborgeräten erhellt. Stille umgab Leif; die anderen
waren schon vor Stunden schlafen gegangen. Aber er konnte nicht. Konzentriert
betrachtete er eine seiner Proben. Sie zeigte nicht das, was er sich erhofft
hatte.
Das Geräusch der
sich öffnenden Tür schreckte ihn auf. Harkonsen stand im Türrahmen, das Haar
zerzaust, als würde draußen ein Sturm toben. Doch es war windstill, nicht einmal
die Birken raschelten. Der Norweger trat ein, wandte sich um und schloss die
Tür sorgfältig hinter sich. Dann kam er zu Leif herüber und beugte sich etwas
vor, sodass er einen Blick auf dessen Notizen werfen konnte.
»Na, du
arbeitest ja immer noch.«
»Hm«, machte
Leif unbestimmt.
Er wollte allein
sein. Er hatte jetzt keine Lust auf Scherze, Anekdoten oder schlaue Ratschläge
des Wissenschaftlers. Harkonsen streckte die Hand nach Leifs Notizblock aus,
strich über die karierten Seiten und nahm ihn schließlich an sich. Leif sah zu
ihm auf. Harkonsens Anwesenheit und vor allem sein Verhalten behagten ihm
nicht.
Unter
zusammengezogenen Brauen warf Harkonsen Leif einen Blick zu, der fast streng
wirkte.
»Du arbeitest
gründlich«, sagte er, während er sich wieder den Notizen zuwandte.
Das Geräusch,
als Harkonsen umblätterte, war seltsam laut. Nach einigen Seiten stockte er,
seine Hand schloss sich fest um den Block. Der nächste Blick, der Leif traf,
trieb ihn dazu, sich von seinem Stuhl zu erheben und einen Schritt
zurückzutreten. Harkonsen legte den Kopf schief, als wollte er Leif mustern,
wie ein Forscher ein seltsames Insekt mustert. Oder ein träges Raubtier seine
Beute, unentschlossen, ob es zuschlagen will oder nicht.
»Du bist
neugierig, Leif. Eine gute Eigenschaft für einen angehenden Wissenschaftler.«
Das väterliche
Lächeln erreichte Harkonsens Augen nicht, stattdessen erschienen sie Leif
seltsam kalt. Als Harkonsen einen Schritt auf ihn zutrat, bildete der Stuhl,
auf dem Leif gesessen hatte, das einzige Hindernis zwischen ihnen.
»Es gibt Dinge,
die man nicht erforschen sollte. Dinge, die unberührt bleiben sollten.
Verstehst du mich?«, fragte er lauernd.
Leif schüttelte
stumm den Kopf. Er begriff nicht, was Harkonsen von ihm wollte. Wo seine sonst
so fröhliche Art geblieben war. Warum er ihm bedrohlich vorkam. Sein Herzschlag
stockte, als Harkonsen die Oberlippe emporzog, fast so, als wolle er die Zähne
fletschen. Ganz leise, sehr tief und kaum wahrnehmbar glaubte Leif ein Grollen
zu hören, das aus der Brust des anderen Mannes zu kommen schien.
Mit einem
abfälligen Hochziehen der buschigen Augenbraue ließ Harkonsen den Spiralblock
achtlos zurück auf den Tisch fallen. Der Block rutschte ein Stück weit und
schob einige Objektträger über die Kante, sodass sie auf dem Boden zersprangen.
Scherben wie Raureif. Glitzernd bedeckten sie den Fußboden.
Leif fühlte sich
gelähmt. Er blinzelte träge, hob den Blick von den Scherben zu seinen Füßen.
Der Block lag aufgeschlagen da. Doch statt der Notizen und Tabellen, die mit
den Werten seiner Wasserproben gefüllt waren, war die Seite, die nun
aufgeschlagen war, mit einem Namen bedeckt. Wieder und wieder, Zeile für Zeile.
Akkurat.
Erschrocken
huschte Leifs Blick zu Harkonsen. Das... er... Er hatte das nicht geschrieben!
Es war seine Handschrift, doch auf den Seiten dieses Blockes sollten sich nur
seine Notizen befinden, nichts anderes. Der Name, der dort geschrieben stand,
ängstigte Leif, denn er enthielt zu viele Wahrheiten. Und Harkonsen wusste
darum.
Leif wich
zurück, als Harkonsen den Stuhl beiseite schob und auf ihn zukam. Der Schein
des Laptopmonitors reflektierte sich seltsam in seinen Augen. Silbern glänzten
sie, als tanze eine kalte Flamme darin.
Harkonsens Stoß
traf Leif vollkommen unvermittelt und schickte ihn auf den Fußboden. Er rang
nach Luft, röchelte, doch es war, als sei sein Brustkorb eingedrückt. Panik,
kristallklar, erfüllte für einige Sekunden sein Bewusstsein. Dann tat er einen
keuchenden, schmerzenden Atemzug. Er wollte fliehen. Doch es hatte gerade erst begonnen.
Der Tritt kam, bevor Leif sich aufrichten konnte. Er krümmte sich zusammen, ein
ersticktes Gurgeln auf den Lippen. Seine Augen tränten, bittere Galle in seinem
Mund. Harkonsen ragte über Leif auf, das Gesicht in Schatten getaucht, die
großen Hände an seinen Seiten nur noch Schemen. Die Finger zu lang. Zu gebogen.
Leif stemmte
sich hoch, atmete schwer. Feuchte Kühle in seinem Gesicht. Er spürte gar nichts
mehr – und gleichzeitig alles. Schmerzen, Hoffnung und Hoffnungslosigkeit. Über
allem eine Glocke aus Angst. Wut war es schließlich, die ihn handeln ließ. Er
konnte nicht entkommen, dessen war er sich mit einer seltsamen Akzeptanz
bewusst. Er konnte nicht gewinnen. Aber er konnte kämpfen.
Er rappelte sich
auf, seine Beine zitterten, seine Hand fand die Tischkante, er stütze sich
darauf. Zu wenig Atem. Es musste reichen für Bewegung. Als Harkonsen auf ihn
zukam, viel zu schnell, zielte Leif mit seiner Faust auf dessen Gesicht.
Schmerz flammte
auf, blendete Leif mit eisiger Kälte. Harkonsen hatte seine Faust abgefangen
und hielt sie mit seiner Pranke umklammert. Leif dachte an zersplitterte
Knochen. Er kämpfte, versuchte sich zu befreien. Harkonsen roch seltsam. Wie
verbranntes Haar.
Leifs andere
Faust fand ihr Ziel in Harkonsens Magen. Er hatte mit Härte gerechnet, mit
erneutem Schmerz. Er war es nicht gewohnt, sich zu schlagen. Doch er hatte
keine Nachgiebigkeit erwartet. Seltsam fehl am Platz. Als hätte er in ein prall
gefülltes Daunenkissen geschlagen.
Harkonsen
hingegen zeigte sich gänzlich unbeeindruckt von Leifs Gegenwehr und dem Schlag
in seinen Unterleib. Mit einem rauen Zischen stieß er Leif von sich.
Irgendetwas riss dabei Leifs Handrücken auf.
Schwer atmend
stand er vor Harkonsen, konnte die Aggression förmlich sehen, die er
ausstrahlte. Als würde sie die Atmosphäre verziehen, es schimmerte und zitterte
um Harkonsen, wie Luft über heißem Asphalt.
Diesmal konnte
Leif das tiefe Knurren deutlich lauter vernehmen. Es war tatsächlich Harkonsen,
der es ausstieß.
Nicht menschlich, schoss es ihm
durch den Kopf.
Er machte sich
darauf gefasst, dass Harkonsen ihn anspringen würde, denn er kauerte sich
zusammen wie eine Raubkatze vor dem Angriff. Ein Knall ertönte und Harkonsen
kam tatsächlich auf Leif zu, allerdings alles andere als koordiniert. Bevor er
Leif schlichtweg umrennen konnte, wurde er zurückgerissen und ans andere Ende
des Labors geschleudert. Es krachte und schepperte, als er dabei einige
Laborgeräte abräumte.
»Raus hier,
schnell! Nimm das Fenster!«
Leif konnte sich
nicht bewegen. Er starrte den Mann an, der nun in der Mitte des Raumes stand.
Die Tür des Labors hinter ihm schwang nur noch in einer Angel.
Samuel. Dunkel
und drohend. Fremd.
»Verdammt, Leif,
beweg deinen Arsch!«
Harkonsen
richtete sich grollend hinter Sam auf. Der wandte sich ihm zu, schob dabei
seinen Körper zwischen Harkonsen und Leif. Und Harkonsen – lächelte. Es war ein
Lächeln, das Leif das Blut in den Adern gefrieren ließ. Erwartungsfroh und
kalt. Er würde sie umbringen. Hektisch sah Leif zum einzigen Fenster der Hütte.
Es war kaum mehr als eine schmale Öffnung, einfach verglast und mit zwei
Fensterstreben unterteilt. Es ließ sich nicht öffnen. Es gab keine Flucht. Nur
Kampf.
Obwohl die Angst
bitter auf seiner Zunge schmeckte, trat Leif schräg hinter Sam. Er würde ihn
nicht diesem... Ding überlassen. Denn Harkonsens Gesichtsausdruck hatte
jegliche Menschlichkeit verloren. Etwas Wildes, Unzähmbares lag darin. Es
schien direkt in Leif hineinzugreifen und seine Eingeweide zu verknoten.
»Du sollst dich
verpissen!«, knurrte Sam.
»Ich lass dich
nicht allein«, konterte Leif ruhiger, als er sich fühlte.
Er hatte keine
Ahnung, wie sie diesem Albtraum entkommen sollten. Die Angst betäubte alles
andere, ließ nur noch einen Gedanken zurück: Sie mussten überleben. Irgendwie.
Ihr starrsinniger
Dialog rang Harkonsen ein Lachen ab, dann fragte er Samuel etwas auf
Norwegisch. Die Stimme unbeschwert, als säßen sie bei Kaffee und Waffeln
beieinander.
Samuel stieß
einen leisen Fluch aus, den Leif noch aus ihrer Kindheit kannte: »Helvetes faen!«
Plötzlich schien
sich die Welt im Zeitraffer zu bewegen, während Leif das Gefühl hatte, am
ganzen Körper taub zu sein. Harkonsen setzte zum Sprung an. Samuel schrie und
der Schrei vibrierte in Leifs Zwerchfell, doch er verstand ihn nicht. Dann traf
ihn ein Schlag, gegen den Harkonsens erste Attacke lächerlich wirkte.
Leif wurde nach
hinten geschleudert, er krachte gegen das Fenster. Glas und wirbelnde
Holzsplitter um ihn, als das Fenster zerbarst. Er fiel. Fiel immer weiter. Sah
Samuels Gesicht sich entfernen. Harkonsen hinter ihm, eine Hand verwahrend auf
seine Schulter gelegt, als Samuel sich aus dem zersplitterten Fensterrahmen
beugen wollte. Leif fiel in die Schwärze. Immer weiter weg von Samuel. Und er
dachte nicht an den Aufprall, der bald kommen und ihn bestimmt umbringen würde,
sondern daran, dass es Sam gewesen war, der ihn ins schwarze Nichts gestoßen
hatte.
Leif war dankbar
für den Rest warmen Wassers, den er in einer der Thermoskannen gefunden hatte.
Für eine oder zwei Tassen Tee würde er reichen. Während der Earl Grey in einem
großen Becher zog, machte sich Leif daran, das Feuer im Herd anzuschüren. Es
war noch Glut darin, sodass die trockenen Äste, die er hineingab, schnell Feuer
fingen. Er füllte den Kessel mit Wasser und setzte ihn auf den Herd.
Es war früh.
Viel zu früh, um aufzustehen. Die Sonne war zwar schon aufgegangen, aber es
würde noch gut eine Stunde dauern, bis Steffen und Paul von ihren ansonsten
nutzlosen Handys aus dem Schlaf gerissen wurden. Ein heißer Kaffee wäre dann
sicherlich willkommen.
Leif fühlte sich
mürbe. Seine Knochen schienen von innen zu schmerzen, als würden sie langsam
zerrieben. Seine Augen brannten. Hätte er es nicht besser gewusst, hätte er
angenommen, eine Grippe auszubrüten: die Schwere seines Körpers, die Empfindlichkeit
seiner Haut. Er war erst wenige Tage hier und doch kam es ihm viel zu lang vor.
Er lächelte grimmig, als er daran dachte, wie sehr er sich auf die Zeit in
Norwegen gefreut hatte.
Idiot.
Blauäugiger Idiot.
Natürlich hatte
er nicht wissen können, dass er ausgerechnet Samuel hier treffen würde. Aber
warum zur Hölle hatte es ein norwegischer See sein müssen? Hätten es nicht
Island oder Grönland sein können oder seinetwegen die Anden? Irgendwo, wo es
kalt und abgelegen genug war. Leif fragte sich, ob ein Teil von ihm, tief
vergraben unter zerbrochenen Erinnerungen, ihn nicht doch bewusst
hierhergezogen hatte.
Eine Gänsehaut
überzog seinen Körper und er sah abwesend auf den Kratzer, den er sich in der
letzten Nacht eingefangen hatte. Er zog sich über seine Fingerknöchel und
seinen Handrücken. Eine Schürfwunde, nicht weiter schlimm, wenngleich ein
unangenehmes Pochen von ihr ausging.
Er musste sich
im Schlaf die Hand an der Wand aufgerissen haben, an irgendeinem Splitter, der
aus der Holzvertäfelung ragte. Er hatte schlecht geträumt, irgendetwas von
einem Streit im Labor, und dabei wahrscheinlich herumgefuchtelt. Harkonsen
hatte in seinem Traum seine Arbeit kritisiert und es war zu einer Prügelei
gekommen. Leif schüttelte abwesend den Kopf. Harkonsen hatte ihm bis jetzt
keinen Anlass gegeben, an seiner freundlichen und zuvorkommenden Art zu
zweifeln. Leif konnte sich nicht vorstellen, dass der Mann jemanden heftig
anfuhr, geschweige denn handgreiflich wurde.
Dennoch hatte
sich eine seltsame Unruhe in ihm eingenistet. Der Traum klebte an ihm und Leif
war froh, dass Harkonsen nach ihrer gestrigen Rückkehr zur Hütte in Richtung
Trondheim aufgebrochen war. Es würde über eine Woche dauern, bis er, begleitet
von einigen norwegischen Studenten, zurückkehren würde.
Leif fischte den
Teebeutel aus der Tasse und nippte an dem Tee, der eher lauwarm als heiß war.
Er verzog das Gesicht, trank aber weiter und blickte auf den See hinaus, dessen
Wasser einen bleiernen Blauton aufwies. Ganz still und glatt war die Wasseroberfläche,
als läge ein öliger Schleier darüber.
Etwas am Rande
seines Sichtfeldes weckte seine Aufmerksamkeit und ließ ihn den Kopf drehen. Er
stockte in der Bewegung, seine Finger schlossen sich fester um die Tasse, die
sich auf halbem Weg zu seinen Lippen befand. Ganz still stand er da, wagte kaum
zu atmen. Der Impuls, sich zu verstecken, war groß und dennoch verharrte er.
Viel zu sichtbar.
Samuel schien
ihn jedoch nicht zu bemerken, als er hinunter zum Steg lief. Er trug eine
schwarze Jogginghose und einen grauen Kapuzenpullover, auf dem sich dunkle
Schweißflecken abzeichneten. Ein dunkles Handtuch war um seinen Nacken gelegt.
Leif fluchte
leise, als Samuel kurz hinterm Bootshaus verschwand, das einen Teil des Blicks
auf den Steg verstellte. Was machte er so früh hier? Seine Antwort bekam Leif
nur wenige Augenblicke später, als Samuel bis an den Kopf des Steges lief und
im Gehen seinen Pullover auszog. Achtlos ließ er ihn auf den Steg fallen. Dann
folgten Turnschuhe und Jogginghose.
Es waren
sicherlich zwanzig Meter, die Leif vom Seeufer trennten. Zwanzig Meter, die ihn
keine Details sehen ließen. Und doch viel zu viel. Proportionen. Haut und
Muskeln. Ein heller Körper vor blaugrauem Grund, der ihm unbekannt war, obwohl
er ihn oft berührt hatte. Ein Körper, der seine Triebe weckte und ihn
rücksichtslos zurückkatapultierte in eine hormongeflutete Jugend.
Ihm blieb nur
wenig Zeit, Sam zu studieren. Die Haut an seinem Hintern der hellste Fleck,
heller noch als die cremefarbene Haut seines Rückens. Einige Unregelmäßigkeiten
darauf, auf die Entfernung undeutbar. Lange Beine. Oberschenkelmuskeln. Die
gerade Linie der Schultern, der Schwung am Übergang zu den Armen. Die Fläche
zwischen den Schulterblättern, ein neuralgischer Punkt. Leifs Fingerspitzen
kribbelten.
Sam ging in die
Hocke und schöpfte sich mit beiden Händen etwas Wasser ins Gesicht. Dann
richtete er sich auf, trat an die Kante des Stegs – und sprang mit einem
Kopfsprung ins Wasser. Das ölige Grau des Sees wurde zerrissen, als Samuels
Kopf wieder auftauchte – glatt und dunkel wie ein Selkie. Er schwamm noch
einige Züge, tauchte unter, dann zog er sich am Steg empor.
Leif spürte
seine eigene Haut überdeutlich, als er beobachtete, wie Sam sich abtrocknete.
Einfache, zweckmäßige Bewegungen. Leif glaubte, nie etwas Sinnlicheres gesehen
zu haben. Er wünschte sich Sonnenlicht herbei und weniger Entfernung. Er wollte
Wassertropfen auf Samuels Haut sehen und studieren, wie sie das Licht gefangen
hielten. Er wollte sie von der Haut lecken, die nach Sommer roch. Wollte sehen,
wie sich unter seiner warmen Zunge eine Gänsehaut bildete, die das kalte Wasser
nicht hatte erzeugen können.
Benommen
schüttelte Leif den Kopf und trat vom Fenster zurück. Fühlte die Schwere
zwischen seinen Beinen, den Stoff seines Shirts über seiner Brust und
verfluchte sich dafür.
Leif kam es so
vor, als hielte der heiße Becher in seiner Hand ihn fest und nicht umgekehrt.
Ein dämlicher Gedanke, wie wahrscheinlich auch die ganze Aktion dämlich war.
Kaffeeduft vermischte sich mit den Gerüchen eines nordischen Morgens.
Unberührtheit könnte so riechen oder Unwissen, dachte Leif. Er ließ sich auf
dem Weg zum Bootshaus Zeit und doch kam er zu schnell zum Ziel seines
morgendlichen Botengangs.
Sam sah
überrascht auf, als er Schritte vernahm. Er hatte sich mit dem Rücken an der
hölzernen Wand des Bootshauses angelehnt, die Unterarme auf den aufgestellten
Knien abgelegt. Leif war froh, dass er inzwischen wieder angezogen war. Die
übliche Cargohose, darüber ein dunkelblauer Wollpullover, aus dessen Kragen ein
hellgraues Shirt blitzte. Nur Samuels Füße schauten noch nackt aus den
Hosenbeinen. Lange, schmale Füße, gut eine Nummer größer als Leifs eigene.
Seine nassen Haare kringelten sich an den Spitzen.
Für einen
Augenblick stand Leif ungelenk vor Sam, der einfach nur ruhig zu ihm
aufblickte. Dann gab Leif sich einen Ruck und war sich sicher, dass der andere
sehen konnte, wie viel Überwindung es ihn kostete, sich ebenfalls auf den
hölzernen Steg zu setzen, der am Fuße des Bootshauses begann.
»Hier«, sagte
Leif und hielt ihm den Kaffeebecher hin.
Sam lächelte
erstaunt, beugte sich vor und nahm den Kaffee entgegen. Seine Hände schlossen
sich um den Becher, als wollte er sich daran wärmen.
»Danke.«
Er nippte an dem
Kaffee und Leif fragte sich, ob Sam ihn noch immer mit einem knappen Löffel
Zucker trank. Er hatte nicht darauf geachtet. Sie schwiegen eine Weile, in der
zumindest Leif angestrengt nach einem Gesprächsthema suchte. Warum hatte er Sam
nicht einfach die verdammte Tasse in die Hand gedrückt und war wieder ins Haus
verschwunden?
»Du bist früh
wach«, sagte Sam leise.
Leif musterte die
grünen Schlieren auf dem dunklen Holz des Stegs. Einige nasse Stellen
verrieten, wo Samuel entlanggegangen war.
»Konnte nicht
mehr schlafen.« Leif zuckte mit den Schultern, dann fragte er: »Du hast heute
Vormittag frei – was machst du hier?«
»Komme manchmal
auf meiner Laufrunde hier vorbei. Heute hatte ich Lust auf Schwimmen. Der See
ist beschissen kalt, aber... Es ist gut. Hab immer ein paar Wechselsachen im
Bootshaus, für alle Fälle.«
Samuels scheues
Lächeln zwang Leif dazu, die Hand zur Faust zu ballen. Das Pochen des Kratzers
auf seinem Handrücken wurde stärker.
»Was hast du
angestellt?«, fragte Sam und deutete auf die Schramme.
Der Wundrand war
rot und etwas geschwollen, der Schorf an den Kanten nässte. Leif stieß ein
unbestimmtes Brummen aus. Er würde Sam bestimmt nicht verraten, dass er im
Schlaf um sich schlug.
»Hast du das
richtig versorgt?«, fragte Sam.
Leif glaubte,
Sorge in Samuels Stimme zu hören. Einbildung. Oder Wunschdenken?
»Ist nur ein
harmloser Kratzer.«
»Zeig mal.«
Fordernd
streckte Sam ihm seine Hand entgegen. Leif rührte sich nicht.
»Leif, stell
dich nicht an. Das sieht so aus, als könnte es sich entzünden.«
»Quatsch, das
ist harmlos«, wehrte Leif ab.
»Ich kenn mich
mit solchen harmlosen Wunden aus. Viele sind es, einige können richtig Ärger
machen. Also zeig her.«
Widerwillig ließ
Leif zu, dass Samuel seine Hand begutachtete. Es waren kurze und zweckmäßige
Berührungen, als Sam die Wunde betrachtete und sanft auf den Wundrand drückte.
Mit einem Mal
schoss ein Stechen durch seine Hand. Leif keuchte und wollte seine Hand
instinktiv zurückziehen, doch Sam hielt sie fest. Zu fest. Eiter quoll unter
dem Schorf hervor. Nicht viel, aber dennoch widerlich.
»Hm, hab ich mir
gedacht. In der Hütte ist ein Erste-Hilfe-Kasten, da müsste auch Jod drin sein.
Aber erst mal muss der Schorf runter. Könnte gut sein, dass noch Dreck in der
Wunde steckt, den solltest du erst rausbekommen.«
Leif war froh,
als er seine Hand Samuels Griff entziehen konnte. Er schwitzte. Samuels
Berührung war viel zu warm auf seiner Haut, dabei waren dessen Hände kalt. Sein
Griff war zu fest. Unerschütterlich. Als könnte man ihm vertrauen.
Lüge. Samuel,
seine Berührungen, der Ausdruck seiner Augen, seine Stimme, alles log, wie auch
Leif gelogen hatte, früher. Vielleicht auch noch jetzt. Als er sich auf den
Rückweg zur Hütte machte – allein und mit dem Versprechen, sich gleich um seine
Wunde zu kümmern –, fragte er sich, wann sie wohl das letzte Mal ehrlich
zueinander gewesen waren.
»Also, ich
glaube, da steckt ein Splitter drin oder so«, sagte Paul und rümpfte die Nase.
Nachdem Leif
seine Hand in lauwarmem Spülwasser eingeweicht hatte, damit er den Schorf
besser ablösen konnte, hatte es sich Paul nicht nehmen lassen, seine Wunde zu
untersuchen. Paul hatte eine seltsame Faszination für solche Dinge. Er hatte
Leif einmal gesagt, dass er gern Medizin studiert hätte, aber sein Notenschnitt
war schlichtweg nicht gut genug gewesen.
Paul drehte
Leifs Hand zum Fenster, damit mehr Licht darauffiel. Die Jod-Tinktur stand
bereit, ein paar blut- und eiterbeschmutzte Taschentücher lagen neben Leifs
Hand auf der Tischplatte. Er fand das ganze Gewese vollkommen überflüssig,
musste sich allerdings eingestehen, dass die Wunde entzündet aussah.
Paul brummte
etwas, dann griff er nach einer Pinzette, die er vorher sorgfältig mit Alkohol
aus dem Labor gereinigt hatte. Leif versteifte sich. Er mochte den Gedanken
nicht, dass Paul in seiner Hand herumstocherte.
»Paul...«
»Da ist was,
wirklich. Hier«, sagte Paul und deutete mit der Spitze der Pinzette auf den
Teil der Wunde, der am tiefsten schien. »Siehst du das Weiße da?«
Leif beugte sich
vor. Tatsächlich konnte er eine helle Spitze ausmachen, die eindeutig keine
Ähnlichkeit mit dem Gewebe darum herum hatte.
»Ja...«
Ihm wurde leicht
übel. Er hatte keine Probleme damit, Fische und andere Wasserbewohner zu
sezieren, aber das hier gefiel ihm nicht. Der Splitter saß nah an der Stelle,
auf deren Rand Samuel vorhin gedrückt hatte. Dennoch widersprach er nicht, als
Paul sich daran machte, den Splitter zu entfernen.
»Au!« Himmel, Hölle,
Arsch und Zwirn! »Das tut weh, verdammt!«
»Ruhe auf den
billigen Plätzen«, murmelte Paul, dann bekam er den Splitter zu fassen und zog
ihn gleichmäßig und zügig aus der Wunde.
Leif biss fest
die Zähne zusammen, dennoch entwich ihm ein weiterer Schmerzenslaut.
Frisches Blut
quoll aus der Stelle, aus der Paul den Splitter gezogen hatte. Paul legte die
Pinzette samt seiner Beute zur Seite und machte sich daran, Leifs Wunde zu
desinfizieren und dann mit einem breiten, rundum abschließenden Pflaster zu
verschließen.
»Noch einmal
tapfer sein, Prinzessin.«
»Geb dir gleich
Prinzessin, du Arsch«, knurrte Leif und versuchte, das Brennen des Jods zu
ignorieren.
Nach der
erfolgreichen Behandlung machte sich Leif gemeinsam mit einem sehr
verschlafenen Steffen daran, den Frühstückstisch zu decken. Paul hingegen nahm
etwas von dem Alkohol und tropfte ihn auf den Splitter, der noch auf der
Tischplatte lag.
»Sag mal, bist
du dir sicher, dass du dir die Wunde an der Wand des Plumpsklos zugezogen
hast?«, fragte Paul.
Leif versuchte,
seine Stimme beiläufig klingen zu lassen. »Sicher, bin im Dunkeln gestolpert
und gegen die Wand geschrammt«, wiederholte er die Notlüge, die er sich
ausgedacht hatte, um sich nicht lächerlich zu machen. »Warum?«
»Weil das hier
ganz bestimmt kein Holz ist«, antwortete Paul und wies auf den Gegenstand, der
nun in einer Pfütze blutigen Alkohols lag.
Das Ding war
knapp einen Zentimeter lang und erinnerte Leif an die Stücke zersplitterter
Katzenkrallen, die er im Kratzbaum oder auch im Wohnzimmerteppich seiner Eltern
gefunden hatte. Hinterlassenschaften Minkas, ihrer rot getigerten Katze.
Nur, dass Minkas Krallen possierlich wirkten gegen das Bruchstück, das vor ihm
lag.
Kälte breitete
sich in Leifs Magen aus und flatterte umher wie eine Motte gegen eine
erleuchtete Scheibe. Und ganz kurz blitzte eine Erinnerung auf, dunkel und
verschwommen. Eine Hand, zu lange Finger, gebogen wie Klauen. Angst und ein
Fall in die Tiefe.
Rettungslos.
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