Kapitel 9
Es dämmerte
bereits, als Leif das Haus, in dem Sam wohnte, nach einem eineinhalbstündigen
Fußmarsch erreichte. Es schien sich unter das Grasdach zu ducken, das an den
Seiten tief hinabgezogen war, und war noch kleiner als die Hütte des Instituts.
Helle Fensterrahmen hoben sich von dem schwarzbraunen Holz der Wände ab. Ein
verbeulter und dreckiger Landrover, der so aussah, als habe er mindestens
dreißig Jahre auf dem Buckel, war etwas abseits geparkt.
Leif hatte
gerade die Faust gehoben, um anzuklopfen, da wurde die Tür auch schon geöffnet.
Sam stand im Türrahmen und schürzte misstrauisch die Lippen. Er trug nur eine
verwaschene Jeans und eine Gänsehaut auf dem nackten Oberkörper. Geschwollene
rote Stellen und beginnende blaue Flecke zierten seine Haut. Sein Kinn war
ebenfalls verfärbt. Seine Hand schloss sich um eine Flasche, die schwer nach
Whisky aussah. Um sein Handgelenk trug er das breite Lederband, das Leif ihm
vor so vielen Jahren geschenkt hatte.
Was Leif eisige
Kälte durch den Körper trieb, war jedoch nicht der halbnackte Mann vor ihm,
sondern die blassrosa Linie, die über seinem Herzen prangte. Sie war nicht
zornig rot und aufgeworfen wie in seinem Traum, aber es war definitiv dieselbe
Narbe. Er hatte es geahnt. Mehr als das.
Leif kam sich
vor, als stünde er ungesichert an einem Abgrund. Schwankend. Sein Verstand
schrie ihm zu, er sollte zurückweichen und sich in Sicherheit bringen. Der
Abgrund hingegen flüsterte ihm zu. Leise und verführerisch. Von freiem Fall und
Fliegen. Von Adrenalin und einem Tanz mit dem Unbekannten. Sein Herz schlug
viel zu schwer in seiner Brust. Wie eine Trommel. Tief und vibrierend.
Leif hob den
Blick und sah Sam in die Augen. Es fühlte sich an wie fallen.
»Was willst
du?«, fragte Sam unfreundlich.
»Es tut mir leid«,
entgegnete Leif schlicht.
Samuel musterte
ihn prüfend, dann nickte er. Er sah nicht so aus, als wollte er Leif
hineinlassen.
»Können wir
reden?«, fragte Leif.
Nach einem
merklichen Zögern seufzte Sam ergeben und trat einen Schritt zurück. Leif schob
sich an ihm vorbei in das Halbdunkel der Hütte.
Er trat in einen
Raum, der Wohnzimmer und Küche gleichermaßen war. Ähnlich wie in der Hütte des
Instituts stand auch hier ein gusseiserner Herd, der milde Wärme verbreitete.
Ein wuchtiges altes Sofa war mit einem schlichten grauen Überwurf bedeckt –
wahrscheinlich, um einen grausigen Blümchenbezug zu verdecken. Hinter dem
verzierten Glas der Anrichte stapelte sich fein säuberlich das Geschirr. Die
karge Einrichtung wurde von einem Holztisch mit drei Schemeln unter dem größten
Fenster vervollständigt. Vom Wohnzimmer ging eine einzige Türe ab, die nur halb
geschlossen war, sodass Leif den Umriss eines großen Bettes ausmachen konnte.
Es roch nach Holzfeuer und Mann. Und ganz unverkennbar nach Sam.
»Willst du was trinken?«,
fragte der in die unangenehme Stille hinein und schwenkte die Flasche mit dem
Hochprozentigem.
Leif nickte.
Sam ging zu der
Anrichte, die auch im Haus von Leifs Oma hätte stehen können. Er öffnete eine
Tür und holte zwei einfache Gläser hervor. Leifs Blick klebte an Rückenmuskeln,
die sich viel zu aufreizend unter der Haut bewegten. Zart schimmerten silbrige
Striche darauf. Mehr Narben als früher.
Als hätte Sam
gespürt, dass er gemustert wurde, griff er nach einem verschlissenen Hemd, das
auf dem Boden lag, und streifte es über.
»Jan würde mich
umbringen, wenn er wüsste, dass ich seinen Whisky trinke... und dann auch noch
aus einem Senfglas«, murmelte er, während er ihnen eingoss.
Leif grinste
verhalten. Das unangenehme Puckern auf seinem Jochbein verstärkte sich dabei.
Er fragte sich, ob mit Jan Harkonsen gemeint war. Er hatte schon vermutet, dass die
beiden enger befreundet waren. Der Gedanke verursachte ein flatterndes Ziepen
in seinem Magen. Verärgert über sich selbst zog er die Brauen zusammen.
Natürlich hatte Sam Freunde. Er hatte ein ganzes Leben, von dem Leif nichts
wusste. Nichts wissen wollte. Nicht wirklich.
Der Whisky biss
Leif sanft in die Zunge, bevor er in einem warmen Strudel seine Speiseröhre
hinabrann und Hitze in seinem Magen entfachte. Nach einem zweiten vorsichtigen
Schluck setzte er das Glas ab und sah sich verstohlen im Zimmer um. Er konnte
kaum persönliche Gegenstände entdecken. Keine Fotos oder Bilder an den Wänden.
Keine Bücher. Eine zerfledderte Zeitung lag auf dem krümelübersäten Tisch, auf
dem sich auch noch zwei dicke Kerzen und gebrauchtes Geschirr tummelten.
Er war froh,
dass Sam ihm keinen Sitzplatz anbot. Stattdessen wurde er von ihm kühl
gemustert. Leif räusperte sich leise. Der Alkohol hatte einen Film auf seine Stimmbänder
gelegt, der es ihm schwer machte, zu sprechen.
»Es tut mir
leid, Sam.«
»Das sagtest du
bereits«, entgegnete Samuel und Leif war sich nicht sicher, ob er die Silben
leicht verschliff.
Er biss sich auf
die Unterlippe, dann senkte er den Kopf. Obwohl es in der Hütte nicht übermäßig
warm war, schwitzte er unter seinem Pullover. Die Gegenwart seines ehemaligen
Freundes und die Luft, die getränkt war mit dessen Geruch, waren eine Falle,
die sich langsam schloss. In ihr Leif, die zappelnde Beute. Curiosity killed
the cat, kam ihm ein englisches Sprichwort in den Sinn.
»Dass ich dir
die Fresse poliert habe, tut mir übrigens nicht leid. Mir tut leid, dass ich
dir am Ende in die Eier getreten habe«, stellte er angriffslustig klar.
Sam lachte rau:
»Und ich hatte mich schon gewundert.« Er kratzte sich im Nacken, das Hemd
klaffte dabei weiter auf. »Aber irgendwie hätte ich es mir denken können«,
meinte er leise und ergänzte, als er Leifs fragenden Blick bemerkte: »Dass du
das nicht auf sich beruhen lässt. Du konntest noch nie schlafen gehen, wenn wir uns
gestritten hatten. Musstest immer Frieden schließen. Irgendwie.«
»Kann sein.« Leif
zuckte mit den Schultern.
Dass er über
Wochen kaum hatte schlafen können, nachdem Sam ihn verlassen hatte, würde er
diesem nicht verraten. Er wusste bis heute nicht, wie er halbwegs heil durchs
mündliche Abitur gekommen war.
Er schwenkte den
verblieben Whisky in seinem Glas. Der rotgoldene Mahlstrom glich dem Wirrwarr
kreiselnder Gedanken in seinem Kopf.
»Du hast das
wirklich gesagt, oder?«, fragte Leif nach einem Moment des Schweigens. Als Sam
ihm nicht antwortete, fuhr er zögerlich fort. »Das mit dem... mit dem
Vertrauen«, stieß er ungelenk hervor. »Ich dachte kurzzeitig, ich hätte mir das
eingebildet.«
Nun war es an
Sam, den Blick zu senken. Er wandte sich ab und sah aus dem Fenster. Leif
konnte von seinem Standpunkt aus noch einen Teil der Motorhaube des Landrovers
erkennen, wenige Meter dahinter begannen die Bäume, so dicht zu stehen, dass es
wirkte, als befänden sie sich auf einer kleinen Lichtung im Wald. Tiefe
Schatten lagen zwischen den Bäumen. Bald würde es dunkel sein.
»Ja«, sagte Sam,
die Rechte an seiner Seite ballte sich zur Faust. »Ich hatte immer gehofft,
dass zumindest –« Er unterbrach sich, holte tief Luft, als wollte er sich
beruhigen, bevor er bitter fortfuhr: »Warum… Wie kannst du nur denken, dass ich
dir nicht vertraut hätte?«
Langsam drehte er
sich zu Leif um. Sein Gesicht wirkte ausdruckslos, doch seine Körperhaltung
verriet, wie angespannt er war. Das Glas in seiner Hand war leer. Leif hatte
nicht mitbekommen, wie schnell Sam trank. Er selbst hatte nur am Whisky genippt
und spürte bereits dessen Wirkung.
Der Anblick der
nur unzulänglich bedeckten Brust verbündete sich mit dem Alkohol in seinem
Magen zu einer unheiligen Allianz. Leif wusste, dass das Begehren nach diesem
Mann in ihm vergraben war. Nicht tief. Sondern viel zu nah unter der
Oberfläche, gerade in den letzten Tagen.
Sam trat auf ihn
zu, so nah, dass Leif nur den Arm hätte ausstrecken müssen, um ihn zu berühren.
»Es gibt viele
Dinge, die ich dir nicht sagen konnte. Und ich kann sie auch jetzt nicht
erklären. Weil ich einfach… weil ich es einfach nicht kann. Aber das hat
nie bedeutet, dass ich dir nicht vertraue.«
Sam schnaubte
leise, ein amüsierter und gleichermaßen verzweifelter Laut. »Ich meine, sieh
mich an.« Er breitete die Hände in einer Geste aus, die ihn, die Hütte und sein
ganzes Leben zu umfassen schien. »Ich stehe hier vor dir und obwohl du ein
beschissener Idiot bist und ich einfach mal die Klappe halten und dir einen
Arschtritt verpassen sollte, der dich bis nach Oslo befördert... trotz alledem
stehe ich vor dir und…« Er fuhr sich durch die Haare, sodass einzelne Strähnen
wirr von seinen Kopf abstanden. »Und versuche zu erklären, was... Ach, Shit,
ich rede nur Müll!«, schloss Sam seine Ausführungen heftig.
Er schnappte
sich die Flasche und goss sich einen weiteren Fingerbreit ein.
Leif hatte noch
nie mitbekommen, dass Sam sich betrank. Als Teenager hatten sie zwar einige
Male zusammen gefeiert, aber Sam hatte nie viel vertragen, sodass er meistens
nach wenigen Bieren auf Cola umgestiegen war. Leif konnte sich nicht daran
erinnern, ihn je etwas Hochprozentiges trinken gesehen zu haben.
»Scheiße!«,
fluchte Sam leise. »Ich hätte auf ihn hören sollen, weißt du?« Benommen
schüttelte er den Kopf und Leif bekam mehr und mehr den Eindruck, dass Sam
ziemlich angetrunken war. Er hatte keine Ahnung, von wem Samuel sprach. Dieser
setzte das Glas an und ließ den Whisky in seine Kehle rinnen. Für einen Moment
war Leif vom Anblick des sich bewegenden Adamsapfels gebannt.
»Du wirst es
bereuen, wenn du dich jetzt abfüllst«, sagte er bestimmt und nahm Sam die
Flasche weg, als dieser erneut danach greifen wollte.
»Das tue ich
jetzt schon«, brummte Samuel.
Mit einem lauten
Klacken stellte er sein Glas auf den Tisch. Dann stützte er sich mit beiden
Händen darauf ab und blickte Leif von unten herauf an. Seine Augen waren
gerötet, der Bluterguss an seinem Kinn ließ ihn fertig wirken. »Warum kannste
nicht einfach wieder verschwinden?«
»Das habe ich
mich auch schon gefragt«, sagte Leif bissig.
Er ging zur
Anrichte und stellte den Whisky außerhalb von Samuels Reichweite ab. Die
Flasche war fast halb leer und er hoffte inständig, dass Sam sie nicht
angebrochen hatte.
»Doch wie es
aussieht, hast du mich noch einige Zeit länger an der Backe. Also, wie wäre es,
wenn du zur Abwechslung mal mit der Wahrheit rausrückst«, sagte Leif und
verschränkte die Arme vor der Brust. Er hoffte, dass er entschlossener wirkte,
als er war.
Rumpelnd
rutschte der Hocker über den Boden, als Sam ihn mit dem Fuß unter dem Tisch
hervorzog und sich daraufsetzte. Mit einer Geste bedeutete er Leif, sich ihm
gegenüberzusetzen. Die Tischplatte war etwas klebrig, doch Leif störte sich
nicht weiter daran. Er nippte an seinem Glas und sah Samuel abwartend an. Mit
einem leisen Seufzen griff Sam über den Tisch und wand ihm das Glas aus den
Fingern. Seine Fingerspitzen streiften kurz Leifs Haut. Während dieser noch dem
irrsinnigen Prickeln hinterherspürte, das die Berührung ausgelöst hatte, kippte
Sam den verbliebenen Alkohol hinunter. Er verzog das Gesicht.
»Du und ich, wir
wissen beide, dass...«, begann er, nur um sich sogleich wieder zu unterbrechen.
Ein nervöses
Flattern breitete sich in Leifs Magen aus. Er schluckte trocken. Er wünschte,
er könnte sich an dem Glas festhalten, das ihm weggenommen worden war.
Sam stieß einen
amüsierten Laut aus – es klang düster. Dann blickte er auf und sah Leif ernst
an. »Ich bin nicht... normal«, sagte er stockend und betonte das normal, als sei es
etwas wenig Erstrebenswertes. »Und ich kann dir nicht genauer erklären, warum.
Ich... ich darf es nicht, verstehst du?«, fragte Sam bittend.
Leif sah ihn nur
mit großen Augen an. Sein Verstand arbeitete wie eine überlastete Festplatte
auf der Suche nach einer Interpretation des Gesagten. Sein Bauchgefühl hingegen
summte Bestätigung. Natürlich war Sam nicht normal. Er war es nie gewesen.
»Woher kommen
die Narben?«, fragte Leif unvermittelt.
Sam schüttelte
den Kopf. »Bitte, Leif.«
»Meinst du
nicht, ich hätte endlich mal eine Antwort verdient und nicht dieses
Rumgeeiere?«, brauste Leif auf und erhob sich so schnell, dass der Hocker
hinter ihm zu Boden ging.
»Ja verdammt,
das hast du!«, knurrte Sam finster, stand ebenfalls auf und kam um den Tisch
herum. Bedrohlich baute er sich vor Leif auf. Er hatte die Hände zu Fäusten
geballt. Leif roch den Whisky in seinem Atem. Ihm kam der Gedanke, dass sie
schon wieder kurz davorstanden, sich zu prügeln. Er schnaubte und schüttelte
belustigt den Kopf, dann trat er einen halben Schritt zurück.
»Ich finde, das
hier könnte auch eine Szene aus einem Superheldenfilm sein: Superman gesteht
Lois Lane, wer er wirklich ist!«, sagte Leif und zeichnete mit den Händen die
Schlagzeile in die Luft. »Wobei mir nicht wirklich gefällt, zur vollbusigen
Comic-Figur zu mutieren«, fügte er nachdenklich an.
»Spinner«,
grinste Sam und die düstere Anspannung fiel von ihm ab.
Dennoch wurde er
schnell wieder ernst. Das Braun seiner Iris erschien im Dämmerlicht grau und doch
so weich und lebendig. Leifs Herz machte einen kleinen Satz in seinem
Brustkorb.
»Nein«,
schüttelte Sam versonnen den Kopf. »Keine Heldengeschichte. In meiner
Geschichte gibt es nur Verlierer.«
Leif glaubte,
dass Samuel ihn noch nie so offen angesehen hatte wie in diesem Moment.
Nackt. Einsam.
Gehetzt.
Nach einigen
quälenden Herzschlägen räusperte sich Sam leise. Ein entschuldigendes Lächeln
huschte über sein Gesicht, und er wandte sich den Kerzen auf dem Tisch zu. Das
Geräusch des sich entzündenden Streichholzes durchbrach die Stille zwischen
ihnen.
Leif war nicht
bewusst gewesen, wie düster es inzwischen in der Hütte war. Das Kerzenlicht
stemmte sich gegen graues Dunkel und vertiefte die Schatten in Samuels Gesicht.
»Ich... ich
sollte wohl besser gehen«, stammelte Leif und kam sich furchtbar feige dabei
vor.
»Ja«, meinte Sam
gedehnt. »Wenn du heil nach Hause kommen willst, solltest du das wohl.« Er
legte lauernd den Kopf schief. »Wie hast du überhaupt hergefunden?«
Leif schob die
Hände in die Hosentaschen und zog die Schultern empor. Ich hab Steffen
ausgequetscht und bin danach durch die Wildnis gestolpert, dachte er
zynisch.
»Steffen hat mir
den Weg erklärt«, sagte er leichthin.
Samuel runzelte
die Stirn. »Der weiß nur, wo der erste Pfad von der Piste abzweigt«, sagte er
gedankenverloren. »Wie lange hast du gebraucht, um herzukommen?«
»Och«, schürzte
Leif die Lippen. »So eine gute Stunde.« Dass er sich natürlich verlaufen hatte
und eher durch Zufall auf die Hütte gestoßen war, unterschlug er dabei großzügig.
Genauso großzügig, wie er die Zeit gekürzt hatte, die er angeblich bis hierher
gebraucht hatte. So viel dazu, dass ein Landjunge sich in der Natur
zurechtfand. Äcker, Wiesen und bewirtschaftete Wälder waren eben doch etwas
anderes als die norwegische Wildnis.
»Hast du ein
Funkgerät dabei?«, fragte Sam streng und gab sich mit einem kritischen Blick auf Leif, der nur in Jeans und
einem leichten Pullover vor ihm stand, selbst die Antwort. »Nein,
offensichtlich nicht«, seufzte er. »Du hast ja nicht mal 'ne Jacke
mitgenommen.«
Sam stapfte ins
angrenzende Schlafzimmer und kam mit einem schwarzen Parka zurück. Wortlos
hielt er Leif das Kleidungsstück entgegen. Der nahm es mit einem verlegenen
Grinsen an. Er fühlte sich wie ein kompletter Idiot. Er schlüpfte in die Jacke,
deren grober Stoff weichgetragen war. Er bildete sich ein, muffigen kalten
Rauch daran wahrzunehmen. Nach Samuels Duft suchte er hingegen vergeblich.
Ein Riegel
klackte laut, als Sam eine Luke in der Wand öffnete, die Leif bisher übersehen hatte.
Dahinter verbarg sich ein kleiner Schrank, in dem säuberlich Funkgeräte,
Taschenlampen, Jagdmesser und drei Gewehre gelagert waren. Ein länglicher
Kasten aus dunklem Holz war edel verziert, als ob er etwas Wertvolles
verwahrte. Er kam Leif bekannt vor und doch konnte er sich nicht erinnern, wo
er ihn schon einmal gesehen hatte. Das Kerzenlicht kroch über dunkles Metall
und ließ den Lauf einer Pistole aufschimmern.
»Wozu brauchst
du 'ne Knarre?«, fragte Leif und deutete auf die Waffe.
»Kann nützlich sein,
manchmal«, erwiderte Sam lakonisch und prüfte dabei die Batterien in einem der
Funkgeräte.
Er war ganz
Wildhüter, als er zu Leif kam und ihm das Funkgerät in die Brusttasche des
Parkas schob. »Wie das funktioniert, muss ich dir wohl hoffentlich kein zweites
Mal erklären«, brummte er.
»Nein«,
quetschte Leif hervor.
Nah. So nah. Und
doch so weit weg.
Er konnte sich
die nächsten Worte nicht erklären und er hätte sie gerne schon zurückgeholt,
als sie seinen Mund verließen: »Ich könnte auch hierbleiben und morgen im
Hellen zurück...«
Kurzzeitig hatte
es Samuel die Sprache verschlagen. Er starrte Leif an, dann schüttelte er den
Kopf.
»Ich bin
betrunken, Leif. Und das bedeutet, dass du die Nacht so weit von mir entfernt
wie nur möglich verbringen wirst«, knurrte er heiser.
Leif wusste
nicht, ob eine Drohung oder ein Versprechen in Samuels Stimme mitschwang. So
oder so – er bekam eine Gänsehaut, die selbst auf seinem Kopf zu spüren war.
Warum? Warum?
Warum? Warum brauchst du Distanz? Was ist so gefährlich? Glaubst du, dass wir
fallen könnten? So, wie ich es hoffe? Wie ich es fürchte?, schwirrten die
Gedanken in seinem Kopf. Nichts davon durfte sich in seiner Mimik zeigen.
Nichts über seine Lippen kommen.
»Auf mich wirkst
du gar nicht so angeheitert«, konterte er in einem Anfall widerborstigen Mutes
und fragte sich im selben Moment, ob er gerade tatsächlich versuchte, Sam zu
überreden. Nur – wozu?
Sam schnaubte:
»Angeheitert ganz bestimmt
nicht. Aber betrunken genug, um sicherzugehen.«
»Okay«, gab Leif
unter dem düsteren Blick nach. Er fragte sich, ob Sam die gleiche Anziehung
verspürte wie er. Dieses Flirren in den Eingeweiden, bei dem er nicht sicher
war, ob er lieber aus der Haut fahren oder Sam packen sollte. Packen, um ihn zu
schütteln, ihn zu schlagen. Ihn zu beißen und zu verschlingen. Mit einiger Mühe
brachte er seine Gedanken weg von Samuels Haut und dessen Körper. Er musste
gehen. Schnellstmöglich.
Leif bezweifelte,
dass er in der Lage sein würde, im Dunkeln den Weg zurück zu der Schotterpiste
zu finden, die die größte Straße im Umkreis darstellte, aber das wollte er Sam
nicht auch noch auf die Nase binden. Er hatte sich schon lächerlich genug
gemacht.
Sam wandte sich
von ihm ab und fischte zwei wuchtige Taschenlampen aus dem Schrank. »Ich würd
dich ja mit dem Landie fahren, aber erstens bin ich dafür wirklich zu blau und
zweitens hat es vor einigen Wochen die Zündkerzen geschrottet«, erklärte Sam,
als hätte er Leifs letzte Gedanken erraten. Zum Glück nur diese. Er verriegelte
die Luke und grinste, als er Leifs Verlegenheit bemerkte. »Aber ich bring dich
bis runter zur Straße.«
Ein Kloß im Hals
erschwerte Leif das Schlucken, also nickte er nur stumm. Sam knöpfte sich sein
Hemd zu und zog einen derben Pullover darüber. Dann schloss er die Tür zur
Hütte und ging zum Pfad, der zwischen den Bäumen begann. Leif war auf dem
Hinweg einige Meter abseits aus dem Unterholz gestolpert.
»Wie kommst du
mit dem Geländewagen hierher?«, fragte Leif, während Sam vor ihm den Abhang
hinunterging.
Die Luft war
merklich kühler geworden und Leif war froh um die derbe Jacke, die die Kälte
abhielt.
»Auf der
Rückseite des Hauses beginnt ein breiterer Pfad, der Richtung Südwesten führt
und nach einigen Kilometern auf die Straße nach Dombås stößt. Im Winter und bei
sehr viel Regen ist er nicht mit dem Auto passierbar, aber wenn der Grund
halbwegs passabel ist, kommt man mit dem Landie bis hier hoch. Geht ja auch
nicht ohne, alleine schon wegen der Vorräte, die ich immer mal wieder besorgen
muss«, erklärte Samuel im Gehen.
Leif hatte den Eindruck,
dass Sam erleichtert war, endlich von unverfänglichen Dingen sprechen zu
können. Oder war er nur beruhigt, weil er Leif loswurde? Sie stapften weiter
voran und Leif musste zugeben, dass er froh um Samuels Begleitung war. Ohne ihn
hätte er sich hoffnungslos verirrt.
Der Pfad war als
solcher oft kaum zu erkennen und fiel streckenweise steil ab. Baumwurzeln und
Steine bildeten heimtückische Stolperfallen. Trotz seiner Taschenlampe
entgingen Leifs Aufmerksamkeit einige Hindernisse auf dem Weg. Die Äste der
schmalen Bäume und Büsche schienen nach ihnen zu greifen und kratzten über den
Stoff seines Parkas. Auf dem Hinweg war ihm die Natur um ihn noch nicht so...
bedrohlich vorgekommen. Als sie schließlich auf die Piste gelangten, ging sein
Atem schneller. Sam hatte ein flottes Tempo angeschlagen und war trotz seiner
Trunkenheit sicherer über den schmalen Pfad gelaufen.
»Danke für die
Begleitung«, schnaufte Leif.
Sam lächelte
nur. Energisch schob Leif seine Hände in die Taschen seiner Jacke. Er hatte die
Befürchtung, dass er sonst etwas Dummes mit ihnen tun könnte. Heute Nacht würde
ihn der Anblick von Samuels Hintern in den abgetragenen Jeans und seiner
unbedeckten Brust mit der grausigen Narbe bis in den Schlaf verfolgen, da war
er sich sicher.
Leif wandte sich
zum Gehen, als er aufgehalten wurde. Die Berührung an seiner Schulter war
flüchtig. Und Sam mal wieder zu nah. Leif bekämpfte den Impuls zurückzuweichen
– oder Samuel an sich heranzuziehen.
»Gib mir kurz
über das Funkgerät Bescheid, wenn du angekommen bist, okay?«, sagte Sam leise.
»Sicher, Mami«,
stichelte Leif.
Sam verdrehte
die Augen. »Da sind Trolle da draußen, die auf Menschenfleisch stehen, also
nimm dich in Acht.«
»Ach, die sind
bestimmt viel schärfer auf den mysteriösen Wildhüter als auf mich«, sagte Leif,
drehte sich um und marschierte in Richtung Hütte.
Samuels Lachen
verfolgte ihn und kroch seine Wirbelsäule hinab: »Das hoffe ich auch! Spinner!«
Ohne
zurückzublicken zeigte Leif ihm den Stinkefinger. Als keine Erwiderung mehr
kam, wandte sich er sich widerwillig noch einmal um. Doch der Weg war verwaist.
Wo Sam gerade noch gestanden hatte, bewegten sich Schatten und Mondlicht
lautlos auf dem Schotter. Angestrengt lauschte er nach den Geräuschen, die Sam
verursachen musste, wenn er den Pfad emporkletterte. Doch außer den Lauten der
Nacht und seinem eigenen Puls, der in seinen Ohren rauschte, war es vollkommen
still um ihn herum.
Dies ist das letzte Kapitel der Leseprobe zu meinem zweiten
Roman Parallelwelt. Ich hoffe, Ihr hattet Spaß damit!
Parallelwelt erscheint am 17. Juni 2014 und ist über den
Cursed-Onlineshop, aber auch über den lokalen Buchhandel oder die gängigen
Online-Händler sowohl als Print als auch als eBook zu erwerben.
Hallo Dewi,
AntwortenLöschenmehr Fragen als Antworten, eine Geschichte die in den Bann zieht, gelesen werden will, nein muss, ganz dringend.
Gut, dass wir schon bald den 17. Juni haben...
A.