Donnerstag, 12. Juni 2014

Parallelwelt - Leseprobe Kapitel 8

Kapitel 8


Mit einem Schmatzen lösten sich die Eingeweide aus dem Fisch. Die Klinge des blutigen Messers blitzte auf, dann wurde der ausgenommene Fisch in eine Schüssel geworfen, die Innereien landeten im Seewasser. Sam hockte auf dem Steg und hatte die Ärmel seines Pullovers hochgekrempelt. Sein Parka hing über dem Türknauf des Bootshauses.
Wie es schien, waren Sam und Steffen nach Pauls Abgang noch recht erfolgreich gewesen. Große und kleine Forellen türmten sich in dem Eimer, der neben Sam auf den Planken stand. Leif sah einige Zeit den routinierten Bewegungen zu, mit denen Sam die Fische ausnahm. Der schenkte ihm keine weitere Beachtung. Ein knapper Gruß war alles, was er Leif entgegengebracht hatte, als dieser zum Steg hinuntergegangen war. Eigentlich wäre es Pauls Aufgabe gewesen, das Gespräch zu suchen und sich zu entschuldigen. Fand zumindest Leif. Doch Paul war stur und hatte sich zum Arbeiten ins Labor zurückgezogen.

Verstohlen wischte sich Leif die Handflächen an seiner Jeans ab. Er war nervös. Vielleicht hatte er auch Angst. Doch er war kein Teenager mehr, der das Offensichtliche ignorierte, damit es seine vermeintlich heile Welt nicht zerstörte. Er hatte keine Angst, Sam zu verlieren. Es gab nichts mehr, was er noch zu verlieren hatte. Nicht einmal seinen Stolz, denn er war gerade im Begriff, sich lächerlich zu machen.
»Woher weißt du davon?«, fragte Leif unvermittelt und kämpfte den Impuls nieder, sich auf dem Absatz umzudrehen und davonzurennen.
Kurz stockte Sam, dann setzte er seine Arbeit fort. In einer fließenden Bewegung tauchte das Messer in den hellen Bauch der Forelle ein und durchtrennte das Gewebe mit einem sauberen Schnitt.
»Wovon?«
Leif biss die Zähne zusammen. Wahrscheinlich würde er gegen eine Mauer rennen.
»Der Spruch, den du Paul gedrückt hast. Woher wusstest du davon?«, fragte er.
»Dass er auf alte Frauen steht?«, brummte Sam und sah das erste Mal auf. Ein schadenfrohes Grinsen huschte über sein Gesicht. »Da habe ich wohl einen Glückstreffer erzielt.«
»Bullshit«, knurrte Leif. »Du hast gesagt, er hätte Sex mit einer älteren Frau. Das ist recht präzise für einen Glückstreffer, meinst du nicht auch?«
»Stimmt es denn?«
Leif antwortete nicht auf die scheinheilige Frage, sondern musterte Sam nur grimmig.
»Weißt du, ich hab damals nicht gefragt. Nie. Hab wohl gehofft, dass du... dass du mir genug vertraust, dass du... ach, keine Ahnung«, stammelte Leif.
Es kotzte ihn an, dass Sam ihn so verunsicherte. Immer noch. Oder schon wieder?
Samuels blut- und schleimbesudelte Hände hielten inne. Dann erhob er sich. Stand mit einem Mal so dicht vor Leif, dass dieser glaubte, ihn riechen zu können. Sam, Wasser, der metallische Geruch des Blutes. Es hatte etwas Bedrohliches, wie er vor ihm aufragte, das Messer in der Hand. In seinen Augen tobte ein Sturm, sein Gesicht hingegen war unbewegt.
Leif konnte ihn spüren. Obwohl Samuel ihn nicht berührte, drang seine Präsenz bis auf Leifs Haut, ließ sie spannen und prickeln. Wie eine Schlange kurz vor der Häutung, schoss es ihm durch den Kopf. Er war versucht, die Zähne zu fletschen und Sam warnend anzuknurren. Er mochte es nicht, in die Enge getrieben zu werden. Denn obwohl er sich einfach nur umdrehen und den Steg hinunterlaufen müsste, konnte er sich nicht rühren. Wollte sich nicht rühren. Wollte Sam keinen Fußbreit zugestehen. Er. War. Kein. Junge. Mehr! Und er ließ sich nicht mehr von Sam beeindrucken, schon gar nicht einschüchtern.
Leif zuckte zusammen, als Sam die Hand hob und mit den Fingerspitzen über die Seite seines Halses strich. Nass und kühl war die Berührung. Heiß tobte sie Leifs Wirbelsäule hinab. Sie änderte alles. Er schluckte schwer. Kein klarer Gedanke mehr, nur noch Wünsche. So primitiv, dass sie nicht in Worte zu fassen waren. Er wollte davonrennen. Wollte bleiben und sich in die Hand des anderen lehnen. Leif hatte vergessen, warum dies nicht möglich war. Niemals möglich sein würde.
Sam war so nah. Leif spürte seinen Atem, als er sprach.
»Ich habe nie wieder einem Menschen so vertraut, wie ich dir vertraut habe, damals«, raunte Sam leise.
Leif schloss die Augen. Sein Herz schlug zum Zerspringen. Es tat weh und dennoch sehnte er sich nach mehr. Samuels Finger wanderten höher, strichen über seinen Kiefer. Kleine Splitter schienen bei dieser Berührung durch seine Nervenbahnen zu tanzen und kratzten an den Innenseiten seiner Handgelenke. Ein Laut entkam ihm, gequält und bedürftig.
Als wollte Sam ihn verspotten, verschwand die Berührung seiner Finger.
Leif hob die Lider und blinzelte verwirrt. Samuel hockte nach wie vor auf den Bohlen des Steges, in der einen Hand das Messer, die andere auf halbem Weg zum Eimer mit den unausgenommenen Fischen.
Leifs nächster Atemzug schmerzte in seiner Lunge. Schmerzte wie die Erkenntnis, dass er sich die letzten Augenblicke zusammenfantasiert haben musste. Er meinte sogar, noch kühle Feuchte auf seiner Haut zu spüren, dort, wo Sam ihn mit nassen Fingern gestreift hatte. Wie erbärmlich.
Sam wich seinem Blick aus und beschäftigte sich wieder mit den verbliebenen Forellen. Mit einem energischen Schnitt durchtrennte er die Bauchdecke des nächsten Fisches, nur um sogleich einen deftigen Fluch auszustoßen. Leuchtend grüne Flüssigkeit tropfte aus dem Bauch des Tieres, weil er die Gallenblase angestochen hatte.


Ein kräftiger Tritt brachte die schmächtige Birke zum Erzittern.
»Scheiße!«
Ein weiterer Tritt folgte, Blätter und kleine Zweige regneten herab.
»Verdammte Scheiße!«, fluchte Leif und biss die Zähne zusammen. Sein Fuß tat weh, doch das war ihm egal. Sein letztes bisschen Verstand gebot ihm, dass es keine gute Idee war, den Baum mit seinen Fäusten zu traktieren. Obwohl der Gedanke an aufgesprungene Fingerknöchel einen seltsamen Reiz auf ihn ausübte. Sie wären ein akzeptabler Preis, als Ausgleich, Sam nicht die Fresse polieren zu können. Gott, dabei wollte er es so sehr. Dieser miese Wichser. Unehrliches Arschloch! Er hasste den Kerl. Hasste ihn!
Viel zu sehr.
Hasste die Gefühle und Träume, die Samuel in seinen Körper und – noch schlimmer – in seinen Kopf gepflanzt hatte. Leif fühlte sich erbärmlich. Natürlich hatte Sam ihn mit seiner dummen Vermutung auflaufen lassen. Eine Vermutung, die Leif nicht mal begründen konnte, noch genauer umschreiben.
Entweder war Sam ein Schnüffler ohnegleichen, der heimlich hinter Leuten herspionierte, oder... Ja, was oder?, dachte Leif zynisch. Konnte Samuel vielleicht Gedankenlesen? Lächerlich! Superkräfte? Sicher, deswegen lebte er auch hier draußen und jede Nacht flog er mit wehendem Umhang und gereckter Faust nach Oslo, nein, warum nicht gleich nach New York, um Unschuldige vor bösen Verbrechern zu schützen. Oder er rettete die Welt. Erst vorgestern wieder. Sicher.
Leif schnaubte. Es war wohl eher er selbst, der sich komisch benahm. Was war das eben gewesen? Totaler Realitäts- und Kontrollverlust. Als würde er im wachen Zustand träumen: Sam, seine unvermittelte Nähe, und wenn Leif bereit war, sich fallen zu lassen und der Sehnsucht in sich nachzugeben, war Sam verschwunden.
Gottverdammt, er war so armselig! Nicht nur, dass er am helllichten Tag träumte, nein, auch noch der Inhalt seiner Fantasie war einfach nur hanebüchen. Samuel hatte ihm nicht vertraut. Nie.

Sommer 2004

3. Oktober 2003
Heute Nacht haben sie Max geholt. Max. Ausgerechnet. Dabei... Ich hätte es sein sollen. Ich. Es ist schon lange überfällig, ich weiß es. Und nun haben sie ihn geholt, weil er mir den Rücken freigehalten hat. Ich glaube nicht, dass er es schafft. Er wird der Dritte sein, dieses Halbjahr.

»Was machst du da?«
Samuels Stimme in seinem Rücken ließ Leif zusammenfahren und das schmale schwarze Buch in seinen Händen zuschlagen. Er hatte noch Zeit, das Adrenalin durch seinen Körper rauschen zu fühlen, bevor er sich langsam umdrehte. Es hatte keinen Zweck zu leugnen, also ging er in die Offensive.
»Max – ist das der Max, mit dem du dir ein Zimmer auf dem Internat teilst?«
Sam sah Leif wütend an, die Hände an den Seiten zu Fäusten geballt.
»Was fällt dir ein, in meinen Sachen zu schnüffeln!«, fauchte er aufgebracht.
Sam sah bedrohlich aus, wie er mit zerzaustem Haar und zu Schlitzen verengten Augen einen Schritt auf Leif zumachte. Obwohl er am liebsten zurückgewichen wäre, blieb Leif stehen und verschränkte trotzig die Arme vor der Brust.
»Das Buch lag offen auf deinem Tisch und... ich war neugierig.« Leif stockte, dann fuhr er versöhnlicher fort: »Sorry, ich wollte nicht... Ich habe nicht geschnüffelt.«
Samuel knurrte einen Fluch als Antwort, dann wandte er sich brüsk ab und begann, im Zimmer verstreute Kleidungsstücke einzusammeln.
»Was ist mit Max passiert?«
Obwohl Leif wusste, dass es wahrscheinlich besser wäre, wenn er Sam in Ruhe lassen würde, ging ihm der kurze Tagebucheintrag, den er gesehen hatte, nicht aus dem Kopf. In den Zeilen hatte etwas Unheimliches mitgeschwungen.
Sam hielt inne, ohne sich zu Leif umzudrehen. Seine Fäuste schlossen sich fest um das schmutzige T-Shirt, das er vom Boden geklaubt hatte.
»Max hat das Internat verlassen. Geht jetzt auf eine andere Schule... irgendwo in England.«
Misstrauisch sah Leif zu, wie Sam nun alle Klamotten in seine Arme raffte, um sie ins Bad zur Waschmaschine zu bringen.
»Was hast du damit gemeint, dass sie Max geholt haben?«
Samuel blieb abrupt im Türrahmen seines Zimmers stehen. Dann drehte er sich um. Langsam. Sein Blick begegnete Leifs und ihm rann ein Schauer den Rücken hinab. Die Wut in Samuels Gesicht war einer emotionslosen Mauer gewichen.
»Vergiss einfach, was du gelesen hast. Es ist nicht mehr wichtig.«

~~~

»Komm mal wieder runter, Mann!«, brummte Steffen gereizt.
Er hatte sich mit verschränkten Armen vor Leif aufgebaut, die Füße in den Boden gestemmt. Auf seine Art wirkte er solider als die sie umgebenden Bäume – eher wie ein Fels. Als sich Leif an der Birke ausgetobt hatte, war Steffen aus dem Laborschuppen gekommen und versuchte nun, ihn zur Vernunft zu bringen. Leif atmete schwer, abflauender Zorn und Schmerz wogten durch seinen Körper. Er wusste, dass er sich lächerlich benahm. Und genau dieses Wissen schickte eine neue Welle Wut durch ihn hindurch, Wut auf sich selbst, befeuert durch das Gefühl zu versagen.
»Weißt du, es gibt Leute, die arbeiten hier. Wir müssen verdammt noch mal den nächsten Aufstieg zum See vorbereiten! Und du Idiot hast nichts Besseres zu tun, als deine Launen auszuleben.«
Leif blickte beschämt zu Boden. Sein Brustkorb hob und senkte sich in schnellen Atemzügen, Schweiß kitzelte seinen Nacken.
Steffen trat an ihn heran und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Warm und schwer fühlte sie sich an.
»Ich weiß«, seufzte Leif.
»Dann ist ja gut«, grinste Steffen und gab ihm einen Schubs. »Lauf eine Stunde durch die Gegend und beruhig dich. Wenn du dich nicht mehr wie eine Diva benimmst, darfst du wieder ins Labor. Saftsack!«
Leif feixte. Er spürte den abklingenden Zorn noch unter der Oberfläche, wie man die Reste eines üblen Katers fühlte, der sich penetrant schnurrend an den Innenseiten des Schädelknochens rieb. Aber es hatte gutgetan, den Kopf gewaschen zu bekommen. Er wollte sich gerade von Steffen abwenden, als dieser ihn mit seinen nächsten Worten aufhielt: »Ach ja, und wasch dir das Gesicht! Ich frag mich echt, wo du dich rumgetrieben hast. Sieht fies aus.«
Leif stutzte. »Was meinst du?«
»Den Schmaddel an deinem Kinn«, sagte Steffen angeekelt.
In einer unbewussten Geste fuhr Leifs Hand nach oben, seine Fingerspitzen strichen über die Stelle, an der er geglaubt hatte, Samuels Berührung gespürt zu haben.
»Genau da, Mann«, bestätigte Steffen und ging in Richtung Labor.
Leif atmete tief ein und zählte seine Herzschläge: eins, zwei, drei, vier. Dann begriff er, was dort unten am Steg wirklich geschehen war. Die Erkenntnis traf ihn, als hätte man ihm einen Vorschlaghammer in den Brustkorb geschlagen. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Sie zitterten. Er drehte sich auf dem Absatz um und marschierte zurück zum See, dorthin, wo er Samuel vermutete. Er wurde immer schneller, bis er schließlich rannte.
Sam war nicht mehr am Steg, doch Leif konnte durch die Büsche und kleinen Bäume, die den Hang zur Hütte hin bewuchsen, einen Zipfel des grünen Militärparkas ausmachen, als Sam sich von ihm entfernte. Er sprintete ihm hinterher. Auf dem Zuweg zur Hütte hatte er ihn eingeholt. Leif hielt sich nicht damit auf ihn anzusprechen, sondern riss ihn an der Schulter herum.
Ein stechender Schmerz schoss durch seine Hand und seinen Arm hinauf, als seine Faust auf Samuels Kinn traf. Sam taumelte mit einem Schmerzenslaut zurück.
Doch Leif ließ ihn nicht entkommen. Er schlug noch einmal zu, erwischte aber diesmal nur Samuels Unterarm, denn dieser hatte sich schnell wieder gefangen und seinen Schlag abgeblockt.
»Spinnst du?! Was soll...«, fragte Sam aufgebracht, doch Leif hörte ihn gar nicht.
»Vertrauen?! Du Wichser sprichst von Vertrauen?«, schrie Leif und trat nach Sam. »Du hast keine Ahnung, was Vertrauen ist!«
Es machte ihn wahnsinnig, dass Sam nicht zurückschlug, sondern seine Schläge und Tritte nur abblockte oder ihnen auswich. Leif warf sich auf ihn, riss ihn durch schiere Gewalt um. Sie krachten auf den Boden, Steine bohrten sich in Leifs Knie, er holte aus, wollte Sam schlagen, wieder und wieder! Samuel grunzte und versuchte, Leif von sich abzuhalten.
»Hast keine Ahnung von Freundschaft!«, fauchte Leif ihn an, die Hände in den grünen Parka gekrallt. Keine Ahnung von Liebe. Liebe, die nur noch wehtut, einen von innen in Fetzen reißt. Hast keine Ahnung...
Mit einem Ruck schüttelte Samuel ihn ab und warf sich nun seinerseits auf Leif. Dieser schlug blind zu. Er boxte Sam in die Seite, konnte aber keinen größeren Schaden anrichten, weil er nicht wirklich ausholen konnte, begraben unter dessen Körper. Ein Schlag gegen sein Jochbein ließ Leif Sterne sehen und befeuerte seinen Jähzorn. Er zog die Lippe über die Schneidezähne, wand sich unter Sam, schlug und trat. Wie zwei Kampfhunde ineinander verkeilt rollten sie über den Boden, schlugen aufeinander ein. Stumm und verbissen.
Irgendwann gewann Samuel die Oberhand, kauerte auf Leif, dessen Handgelenke er brutal auf den Boden presste. Blut lief ihm aus dem Mundwinkel.
»Hör auf, verdammt!«, herrschte er Leif an.
Dessen Gegenwehr kam zum Erliegen. Er war fix und fertig, alles tat ihm weh und er zitterte vom Adrenalin, das durch seinen Körper rauschte. Ihm fehlte die Luft zum Sprechen, also sah er Sam nur wütend an.
Auch der rang sichtlich nach Atem. »Scheiße!«, japste er. »Reicht es jetzt?«
Als Leif nicht antwortete, ruckte Sam Leifs Handgelenke gen Boden. Steine schürften darüber. Knurrend wiederholte Samuel seine Frage: »Ob es jetzt reicht!?«
Leif hasste, dass Sam die Oberhand gewonnen hatte. Er zögerte einen Moment, dann bockte er mit aller Kraft, die ihm noch geblieben war. Sam verlor das Gleichgewicht und rutschte zur Seite. Leif zog das Knie hoch und ein erstickter Laut bestätigte ihm, dass er gut getroffen hatte.
Sam lag auf der Seite, die Beine angezogen und die Hände in den Schritt gepresst. Sein Gesicht war verzogen, seine Augen tränten. Hastig kam Leif auf die Füße. Stand da, die Hände auf die Oberschenkel gestützt und blickte um Atem ringend auf seinen ehemaligen Freund hinab.
»Bastard!«, würgte Sam hervor.
»Gleichfalls«, knurrte Leif. Dann drehte er sich um und stapfte unter Schmerzen in Richtung Labor.


»Was ist denn mit dir passiert?«, fragte Paul geschockt, als er Leifs lädiertes Gesicht bemerkte.
Steffen sah von seinem Laptop auf. »Ach du Scheiße!«
Leif zuckte abwehrend mit den Schultern, öffnete den winzigen gasbetriebenen Kühlschrank, in dem sie einige ihrer Proben lagerten und griff sich ein Kühlaggregat aus dem Eisfach. Er stöhnte leise, als er es vorsichtig an sein Jochbein hielt.
»Du hast dich jetzt nicht mit dem Freak geprügelt, oder?«, schüttelte Paul den Kopf.
»Hier, pack das um das Kühlding, sonst schadet es mehr, als dass es hilft«, sagte Steffen und hielt Leif ein nicht gerade sauberes Geschirrtuch hin. Wortlos wickelte Leif es um das hellblaue Kühlaggregat, dann ließ er sich mit einem Schnaufen auf den Stuhl an seinem Arbeitsplatz sinken.
Sein Schädel brummte, seine Fingerknöchel waren aufgeschürft und das schmerzhafte Pochen an verschiedenen Stellen seines Oberkörpers verriet ihm, dass er einige Prellungen davongetragen hatte.
»Der Arsch spinnt ja wohl! Was hat er getan?«, ereiferte sich Paul weiter.
Leif schloss die Augen und bereute, ins Labor gegangen zu sein. Aber da er die Prellung auf seinem Jochbein kühlen wollte, war das die einzige Möglichkeit. Außer er steckte seinen Kopf in den eisigen See und darauf konnte er gut verzichten.
»Könntest du endlich mal was sagen und aufhören, mich zu ignorieren, Arnsberg?«, fauchte Paul.
Steffen kicherte. Ohne die Augen zu öffnen, antwortete Leif trocken: »Ich bin gegen einen Baum gelaufen.«
Paul fluchte, während Steffen lauthals auflachte.
»Das ist nicht witzig! Sieh ihn dir doch mal an, den Idioten!«, fuhr Paul Steffen an.
Leif öffnete träge die Lider. Er hatte den Eindruck, dass sein linkes Auge von unten her zuschwoll. Wunderbar. Langsam ließ der Rausch des Adrenalins nach, genauso wie die zornige Befriedigung, die er gespürt hatte, bei jedem Schlag, den er Samuel verpasst hatte. Der Kampf verschwamm in seiner Erinnerung in ein einziges Gewühl aus Schlägen, Tritten und unbändiger Wut. Doch das letzte Bild stand ihm klar vor Augen: Sam, am Boden liegend, zusammengekrümmt.
Das schlechte Gewissen zwickte Leif. Es war unfair gewesen, ihm zwischen die Beine zu treten. Mit einem Mal schmeckte sein Sieg schal.
»Paul, lass es gut sein«, sagte Leif. Mit einer ruppigen Handbewegung erstickte er den aufkommenden Protest. »Ich hab mich mit Sam geprügelt. Ich hab was einstecken müssen, er auch. Das Thema ist durch.«
Wenn er sich selbst gegenüber nur genauso gut lügen könnte. Nein, er hatte vielmehr das Gefühl, dass etwas gerade erst begonnen hatte. Etwas, das ihm noch weniger gefiel als die angespannte Ratlosigkeit, von seiner Seite durchsetzt mit viel zu lebendigen Erinnerungen und Träumen, die sie bisher begleitet hatte.


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