Kapitel 5
Brachionus zappelte über
die feine Linie des Rasters, das Leif beim Zählen des Zooplanktons half. Es war
der dritte Durchgang und Leif fluchte leise, als er sich erneut verzählte. Es
wimmelte auf dem Objektträger vor mikroskopisch kleinem Leben, das bestimmt und
katalogisiert werden wollte.
Das im Schuppen
untergebrachte Labor stand in einem starken Kontrast zur urigen Gemütlichkeit
der Wohnhütte. Die Wände waren weiß gestrichen, einige Tische mit Laptops
darauf standen im Raum, Schränke an den Wänden bargen Gerätschaften und waren
mit den wichtigsten Basisgeräten für ihre Forschungen ausgestattet. Eine
Glühbirne baumelte von der Decke und spendete ihnen funzeliges Licht.
Ein
dieselbetriebener Generator versorgte das Labor mit Strom. Es gab sogar einen
Ölradiator um zu heizen, denn die Forscher wollten Ruß und Staub aus dem Labor
fernhalten. Doch da der Ölradiator laut Harkonsen Energie fraß wie ein
ausgehungerter Eisbär Robbenbabys, hatte ihnen der Norweger von dessen
Benutzung abgeraten. Immerhin musste der Diesel reichen, bis Harkonsen mit
Nachschub zurückkehren würde.
Leif streckte
seine Beine unter dem Tisch aus und fühlte die Muskeln in seinem unteren Rücken
protestieren. Vielleicht sollte er es Sam gleichtun und laufen gehen. Der
Gedanke provozierte Erinnerungen, die Leif über den heutigen Tag mehrmals
erfolgreich verdrängt hatte. Wie Raucher, die ständig mit dem Rauchen
aufhörten, nur um dann wieder rückfällig zu werden. Er murmelte einen leisen
Fluch und richtete sich wieder auf, drückte den Rücken durch und nahm eine
Arbeitsposition ein, die einem Ergonomielehrbuch entsprungen sein könnte,
anstatt sich wie üblich krumm über das Mikroskop zu beugen.
Ein Knirschen
unter seinem rechten Schuh weckte Leifs Aufmerksamkeit. Er beugte sich hinab und
sah einige Glasscherben unter seinem Tisch liegen. Stirnrunzelnd tauchte er
unter den Tisch und griff vorsichtig nach einer der größeren Scherben. Er hielt
ein Bruchstück eines Objektträgers in der Hand, das an einigen Stellen rotbraun
verschmiert war. Leifs Blick wanderte zu seinen eigenen Objektträgern, von
denen keiner fehlte. Vor allem arbeitete er mit keiner Flüssigkeit, die an Jod
– oder getrocknetes Blut – erinnerte. Er legte die Scherbe auf der Tischplatte
ab und sammelte die restlichen Splitter ein, darauf bedacht, sich nicht daran
zu schneiden. Eine entzündete Wunde reichte ihm und wer wusste schon, welche
Substanz am Objektträger klebte?
Neugierig
entfernte Leif seinen Objektträger mit den Brachionus, legte den
größten Splitter unter das Mikroskop und drehte den Feintrieb, um das Bild
schärfer zu stellen. Der Anblick, der sich ihm nun bot, erstaunte ihn,
wenngleich er geahnt hatte, dass es sich bei der Substanz auf der Scherbe
tatsächlich um Blut handelte. Leif nahm die Scherben genauer in Augenschein.
Wenn er sich nicht täuschte, hatte jemand Blutstropfen so dünn auf dem
Objektträger ausgestrichen, dass die Blutzellen vereinzelt lagen. Eine der
größeren Scherben zeigte sogar eine bläuliche Färbung.
Leif fragte
sich, welcher der norwegischen Wissenschaftler wohl an größeren Tieren forschte
und dafür mit einer panoptischen Färbung arbeitete, um das Blut zu
untersuchen. Er würde Harkonsen danach fragen... wenn er es über das ganze
Gezähle in seinen eigenen Proben nicht vergäße. Seufzend entsorgte er die
Scherben im Mülleimer und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.
Drei Stunden
später blinzelte Leif entnervt, denn seine Augen tränten vor Müdigkeit. Hätten
Steffen und Paul nicht so verbissen über ihren Proben gehangen, hätte Leif
schon vor einer Stunde die Segel gestrichen. Aber vermutlich hatten die beiden
auch deutlich besser – und vor allem länger – geschlafen als er. Leif sehnte
sich hingegen nur noch nach etwas zu essen, einer heißen Dusche und dem viel zu
schmalen Bett.
Er notierte die
Anzahl der Rotatorien in der aktuellen Probe – sieben, hoffte er zumindest –
und legte einen weiteren Objektträger auf, um das Spielchen zu wiederholen.
Doch er stellte
nicht einmal mehr das Mikroskop scharf, sondern blickte nur stumpf auf seine
Arbeitsmaterialien. Irgendwo hier draußen lief Sam herum, der sich um die Feuer
und das Abendessen kümmerte.
Sam... verdammt.
Wieder drifteten Leifs Gedanken ab und er sah seinen ehemaligen Freund vor
seinem geistigen Auge auf dem Steg des Sees stehen, als er sich unbeobachtet
gefühlt hatte. Helle Haut, offengelegt. Wie ein Pergament, auf dem einmal eine
Karte gezeichnet worden war. Die Linien, die Leifs Finger gezogen hatten, lange
verblasst. So wie die Freundschaft vergangen war, um die Leif so oft gerungen
hatte.
Winter 2005
Die Haut unter
seinen Fingern war warm. Die Muskeln darunter fest. Sam fühlte sich an wie ein
Flusskiesel, der lange in der Sonne gelegen hatte. Bedächtig fuhr Leif über
Samuels Schulter, ließ seine Finger über das Schlüsselbein wandern, bis sie die
Kuhle unter der Kehle gefunden hatten. Nervös befeuchtete er seine Lippen und
schluckte schwer, sein Blick huschte nach oben zu Samuels Gesicht. Fast hätte
er erwartet, dass Sam ihn beobachten, sein Gesicht auf der Suche nach
Hinweisen, was diese Berührungen mit ihm anstellten, studieren würde. Doch Sam
hatte die Augen geschlossen, den Kopf zurückgelegt. Seine Lippen waren fest
aufeinandergepresst. Leifs Hand hob sich in einem seltsamen Kontrast von
Samuels heller Haut ab. Ganz langsam ließ er sie tiefer hinabgleiten.
Er spürte den
leisen Erschütterungen nach, die Samuels klopfendes Herz verursachte. Sein
eigenes Herz beschleunigte seine Arbeit, als würden sie sich hektische
Morsezeichen zusenden.
Samuels Hände
ballten sich zu Fäusten, als Leif sehr vorsichtig mit dem Daumen über dessen
Brustwarze strich. Ihm wurde etwas schwindelig. Was taten sie hier eigentlich?
Eine dumme
Frage. Doch lieber stellte Leif sich diese Frage wieder und wieder, ließ sie in
seinem Kopf kreisen, bis sie jeglichen Sinn verloren zu haben schien. Alles war
besser, als die Antwort zu hören, die klar und deutlich zwischen ihnen stand.
Sie waren dabei, eine Grenze zu überschreiten. Aus seltsamen, pubertären
Spielen war etwas anderes geworden.
Leif wollte Sam.
Er wollte seine Nähe, den Klang seiner Stimme, seinen unverwechselbaren Geruch.
Er wollte diese seidige Glätte unter seinen Fingerspitzen fühlen, die Wärme in
sich aufnehmen. Und ja, er wollte auch das Kribbeln und die Erregung, die all
dies auslöste. Gleichzeitig machte ihm dieser letzte Punkt furchtbare Angst.
Ganz langsam
umkreiste Leif mit der Spitze seines Daumens die braune Brustwarze. Er hörte,
wie Sam tief Atem holte. Bei dem Geräusch überzog eine Gänsehaut Leifs gesamten
Körper, wie eine zu große Welle, die unvermittelt weit einen Sandstrand
emporschwappte. Samuels Adamsapfel hüpfte, seine Lippen öffneten sich leicht.
Leifs nächster Gedanke brachte die Bewegung seiner Finger zum Erliegen.
Er brauchte
mehr. Mehr als diese versteckten Spiele, denen sie sich gelegentlich hingaben.
Er wollte mehr als die spärlichen Berührungen seiner Hände auf Samuels Haut. Er
erinnerte sich gut daran, wie sie sich das letzte Mal so berührt hatten, Haut
an Haut, fast nackt. Das kalte Wasser des Weihers glitschig zwischen ihnen,
seine Badeshorts hatten unangenehm an Leif geklebt und ihn bei ihrer Balgerei
behindert. Er wollte diese Berührung noch einmal spüren – nur… anders. Er wollte Schwere und
Herzschlag, tief in sich. Er wollte Samuels Atem trinken, sich daran besaufen.
Sam wurde angesichts
von Leifs Zögern unruhig. Nur zu genau wusste Leif, was ihn quälte. Mit einem
leisen Brummen hob Sam den Kopf, griff an seine Hose und löste ohne Umschweife
den obersten Knopf. Dann zerrte er am Bund, sodass die anderen Knöpfe der Jeans
nachgaben. Eine unmissverständliche Aufforderung.
Mit einem
erleichterten Seufzen ließ Sam seinen Kopf zurück in das Kissen sinken. Unter
der offen stehenden Jeans konnte Leif den dunkelblauen Stoff von Samuels
Boxershorts erkennen. Er wusste, wo er dessen Glied vorfinden würde, halb
steif, vielleicht auch mehr, leicht zur rechten Seite gedrückt. Sein Mund wurde
trocken.
Ein Teil von ihm
wollte Sam die Kleidung vom Leib reißen, sich mit mehr als nur einer Hand auf
ihn stürzen. Ihn berühren, ihn schmecken. Ein anderer Teil wiederum wollte
schlicht und ergreifend davonlaufen. Samuels ruppige Direktheit verursachte ein
leises Stechen in Leifs Magen. Es zeigte so genau, was Sam von ihm wollte – und
was nicht. Schnelle, zielgerichtete Befriedigung, nicht mehr.
Leif biss sich
auf die Unterlippe, konnte nicht verhindern, dass seine Hand hinabrutschte,
über den Rippenbogen fuhr, über den straff gespannten Bauch und die nun
unsichtbare Grenze, die noch kurz vorher vom Hosenbund gezogen worden war. Sam
stieß ein leises Schnaufen aus und hob seine Hüften an. Es erregte Leif, wie
sehr Sam das Kommende zu brauchen schien. Dennoch zögerte er, verharrte mit
seinen Fingerspitzen am Rand von Samuels Shorts.
»Mach schon!«,
knurrte Sam leise.
Leif zuckte
zusammen. Fast schuldbewusst schob er seine Hand über die deutlich sichtbare
Beule in der Unterhose, drängte die Jeans darüber zur Seite. Hitze. Härte.
Zuckendes Leben. Er bedeckte Samuels Glied auf ganzer Länge mit seiner Hand,
spürte, wie es sich unter seiner Berührung weiter versteifte.
Ein Gefühl von
Macht, gepaart mit Erregung durchströmte ihn. Unwillkürlich rückte er näher an
Sam heran, so nah, dass sich sein eigener Schritt gegen dessen Oberschenkel
presste. Leif war hart, es war zu eng in seiner Hose und unbequem. Dennoch
genoss er den Gegendruck. Sam versteifte sich mehr und ein kleiner Tropfen
tränkte den dunkelblauen Stoff seiner Shorts, ließ ihn an dieser Stelle fast
schwarz werden. Leif strich darüber, rieb über den feuchten Stoff, unter dem er
die Konturen der Eichel spüren konnte. Samuels Atem wurde lauter.
Näher! Er wollte
Sam näherkommen. Leif beugte sich tiefer über ihn, sein Gesicht war nur noch
eine Hand breit von Sam entfernt. Er spürte dessen warmen Atem auf seiner Haut,
roch Spuren des Mittagessens darin und diesen ganz eigenen Sam-Duft. Dieser
Geruch, der dafür sorgte, dass Leif sich fragte, wie Sam schmecken mochte.
Energischer
strich er nun über die warme Härte unter seinen Fingern. Bald hielt er es nicht
mehr aus, zerrte den Bund der Shorts nach unten, entblößte krauses dunkles
Schamhaar und gab Samuels Glied Freiheit. Gerade, die Adern deutlich
abgezeichnet und mit einer dick geschwollenen Eichel legte es sich auf die
Bauchdecke. Zielstrebig umschloss Leif es mit der Hand, schob die Vorhaut über
die entblößte Eichel, presste Sam den nächsten Tropfen ab.
Ein leises
Summen schien von diesem auszugehen, nicht so viel, dass er stöhnen würde.
Vielleicht war es auch viel mehr als ein Stöhnen, vielleicht waren es alle
Laute zusammen, die Sam bisher zurückgehalten hatte. Er beschleunigte seine
Bewegung, sein Blick huschte zwischen dem Anblick von Samuels Glied in seiner
Hand und dessen geröteten Lippen hin und her. Er wollte, er könnte, er müsste…
Leif konnte nicht
mehr klar denken. Er fühlte nur noch. Seidige Hitze und Samuels Feuchtigkeit an
seinen Fingerspitzen. Eine Feuchtigkeit, die salzig und süß zugleich schmeckte,
die Leif bereits heimlich von seinen Fingern geleckt hatte, wenn Sam es nicht
bemerkte.
Manchmal träumte
Leif. Er träumte davon, wie es wäre, Sam zu küssen, überall. Seinen Körper zu
erkunden, das drahtige Schamhaar an seinen Lippen zu spüren und dann den Sprung
zu wagen. Sam riechen, salzig und wild. Leif wollte wissen, wie sich Samuels
Glied an seiner Zunge anfühlen würde, in seinem Mund. Ob es zu groß für ihn
wäre. Er wollte Samuels Feuchtigkeit auf seinen Lippen, auf seiner Zunge. Und
in den Momenten seiner Tagträume, in denen Leif kam, in denen Sam ihm im selben
Atemzug folgte, wünschte Leif sich, Sam könnte in ihm kommen. Er wollte alles
von ihm, wollte das Zucken und Krampfen spüren. Wollte schlucken und lecken und
gierig sein.
Doch jetzt,
hier, während Sam sich immer mehr anspannte, das Kreuz durchdrückte, wünschte
Leif sich etwas anderes. Sein ganzer Körper kribbelte, sein Schwanz war
schmerzhaft in seiner Unterhose verkeilt und seine Lippen waren ihm
überdeutlich bewusst. Nein, nicht so. Er wollte mehr als bloßes Rumgefummel.
Als Sam unter
ihm das Gesicht verzog, kurz davor zu kommen, konnte Leif sich nicht mehr
beherrschen. Er beugte sich hinunter und presste seine Lippen auf die seines
besten Freundes. Sam stöhnte auf, legte den Kopf in den Nacken, öffnete die
Lippen, begegnete Leif – und kam. Spritzte sein Sperma über Leifs Hand, es
tropfte zäh hinab auf Samuels nackten Bauch.
Leif glaubte zu
fallen. Das Bett kippte unter ihnen weg, alles drehte sich, er musste sich an
Sam klammern, um nicht verloren zu gehen. Samuels Lippen waren weich und
gleichzeitig fest. Sein Geruch war so intensiv, dass er zu Geschmack wurde.
Leif leckte über seine Unterlippe, ganz leicht nur. Synchron vertieften sie den
Kuss, Leif presste sich noch dichter an Sam, drängte seinen Schritt im Rhythmus
ihres Kusses einige Male gegen dessen Oberschenkel. Er stöhnte dunkel in ihren
Kuss, als er unvermittelt kam, sich alles fast schmerzhaft in ihm zusammenzog.
Plötzlich
erstarrte Sam. Seine rechte Hand umfasste Leifs Schulter und drückte ihn ruppig
zurück. Leif sah auf ihn hinunter, seine Lippen pochten, sein Körper summte vor
träge abflauender Lust und dem Taumel, in den ihn der Kuss versetzt hatte. Das
Entsetzen in Samuels Gesicht brachte ihn jedoch auf den Boden der Tatsachen
zurück, als hätte er seinen Kopf gegen eine Wand geschlagen.
Ihm wurde
schlecht, sein Magen krampfte sich zusammen. Was hatte er getan? Was hatte er
nur getan?! Überdeutlich wurde er sich bewusst, dass er seine Hand noch um
Samuels erschlaffendes Glied geschlossen hatte, dass dessen Sperma auf seinen
Fingern erkaltete. Er zog seine Hand zurück, wollte die klebrige Flüssigkeit
loswerden, als könnte er die Spuren dessen verwischen, was sie getan hatten.
Doch der Kuss
hinterließ keine sichtbaren Spuren und diejenigen, die er unsichtbar in ihre
Erinnerung geschrieben hatte, würden dort verbleiben.
Hastig brachte
er Abstand zwischen sie, flüchtete aus dem Bett, dessen Decke zerknautscht
unter Samuels Körper lag. Sam, halb nackt und angerichtet, als wäre er direkt
aus Leifs Tagträumen entsprungen. Die Fassungslosigkeit und auch der
aufkeimende Widerwille in Samuels Gesicht trieben Leif aus dessen Zimmer.
Wortlos ging er
zur Tür. Er war sich nicht sicher, ob er schwankte. Die Türklinke fühlte sich
kalt an. Das Licht im Badezimmer, das nur wenige Schritte den Flur hinunter
lag, ließ sein Gesicht blass und seine Augen glasig erscheinen. Er wusch seine
Hände, dann kümmerte er sich um die Sauerei in seiner Unterhose.
Verdammt! Er war
von nicht viel mehr gekommen als einem Kuss und all den Gedanken, die Sam
unbedacht seit Jahren in sein Hirn säte. Er brauchte die Augen nicht zu
schließen, um Samuels entgeistertes Gesicht vor sich zu sehen. Wut und Angst
ballten sich in seinem Inneren zu einer explosiven Mischung. Verdammt.
Ja, sie holten
sich ab und an gegenseitig einen runter. Nur er Idiot hatte die Beherrschung
verlieren müssen. Es war egal, dass es sich so unglaublich gut angefühlt hatte.
Es war egal, dass Sam immer näherzukommen so natürlich erschien, als gäbe es
gar keine andere Möglichkeit für sie. Alles war egal, denn Leif wusste mit
Sicherheit, dass Sam nicht so empfand wie er.
Wichsen war eine
gegenseitige Gefälligkeit gewesen, als würde man den anderen an einer Stelle
kratzen, an die der selbst schlecht herankam. Es sorgte für genauso viel Unruhe
wie gemeinsames Computerspielen oder ein Nachmittag im Garten – zumindest was
Sam betraf. Sie hatten nur die Dauer eines Taschentuchs gebraucht, bis sie zum
nächsten Tagesordnungspunkt übergehen konnten. Aber jetzt?
Leif atmete
zittrig aus. Was, wenn Sam ihn nun nicht mehr sehen wollte? Sie hatten nur
wenige Tage, bis Sam zurückmusste ins Internat.
Die Ferien waren
so kurz geworden, seit Sam nicht mehr auf dieselbe Schule ging wie er. Und
gerade jetzt fühlte es sich so an, als hätte er alles verbockt. Die Angst
schnürte Leif den Brustkorb zu. Er würde Sam verlieren.
Der Kaffee in
Leifs Händen war schon lange kalt geworden. Das dickwandige Porzellan des
großen Bechers zeigte einige Sprünge in der Glasur, eine Ecke war
ausgeschlagen. Schönes Potsdam stand darauf, unter dem schnörkeligen Schriftzug war
irgendein Schloss abgebildet, an dessen Namen sich Leif nicht mehr erinnern
konnte. Wieder und wieder fuhr er mit seinem Daumen über die unebene Stelle am
Rand des Bechers. Er starrte in die Schwärze des Kaffees und sah doch nichts.
Dafür fühlte er umso mehr.
Das bleischwere
Gefühl in seinem Magen, das nach hinten in Richtung Rückgrat zog, an eine
Mischung aus Übelkeit und Schmerz erinnerte, hatte ihn seit Tagen nicht
verlassen. Genau genommen hatte es sich eingestellt, nachdem Leif überhastet
Samuels Zimmer verlassen hatte. Mit einem gemurmelten Tschüss war er vom Bad
aus an der geöffneten Zimmertür vorbeigelaufen. Er hatte nicht gewagt, in
Richtung Bett zu blicken.
Die Tage nach
dem Kuss waren von einer beklemmenden Stille erfüllt gewesen. Einer Stille, die
sich nicht im Mangel von Worten manifestierte. Nein, sie hatten miteinander
gesprochen. Sie waren zusammen im verschneiten Wald Laufen gegangen, hatten
Computer gespielt oder Filme geguckt. Fast gierig hatten sie jede Möglichkeit
angenommen, sich mit allerlei Dingen zu beschäftigen, nur nicht miteinander.
Sie hatten den Kuss mit keiner Silbe erwähnt, noch waren sie sich noch einmal
körperlich nähergekommen.
Leif bereute
sein Handeln bitterlich. Und doch, in den Minuten kurz bevor einschlief, wenn
er sich in der Wärme seines Bettes zusammenrollte und die Spannung in seinen
Schultern nachließ, musste er sich eingestehen, dass es etwas gab, was er sich
mehr wünschte, als den Kuss ungeschehen zu machen.
Er wünschte
sich, dass Sam ihn ansehen würde, lächeln und ihm verzeihen. Oder noch besser:
Sam würde lächeln, ihn umarmen und ein weiteres Mal küssen.
Leif wurde
schlecht bei dem Gedanken an den Kuss und seine Folgen und doch konnte er nicht
umhin, sich immer wieder an diesen Moment zu erinnern. Samuels warme Haut, sein
Atem, sein Geschmack, das feuchte Geräusch ihrer Lippen. Sobald seine
Erinnerung jedoch bei Samuels abwehrendem Gesichtsausdruck angekommen war,
gesellten sich Wut und Enttäuschung zu Leifs Gefühlschaos, ließen aus den dumpf
polternden Felsbrocken in seinem Inneren scharfe Splitter herausbrechen, die
sich tief in seinen Magen bohrten.
Und nun saß er
hier am Küchentisch, an einem Sonntagmorgen. Es war früh, viel zu früh, um
aufzustehen. Seine Eltern und Tilda schliefen noch. Doch Leif hatte nicht mehr
im Bett bleiben können. Sam würde heute Morgen von seiner Mutter zum Zug
gebracht werden. Sie würden sich bis zum Sommer nicht mehr sehen.
Leif fragte
sich, ob der Abschied ihm auch in den vergangenen Jahren die Kehle zugeschnürt
hatte. Er konnte sich nicht mehr erinnern. Mit einem Schnaufen stellte er den
Becher auf dem vom vielen Gebrauch speckig polierten Holz des Küchentisches ab.
Er vergrub den Kopf in den Händen, krallte seine Finger ins Haar.
Sie hatten sich
bereits verabschiedet, gestern Abend. Unbeholfen. Ein Schulterzucken, ein
halbes Lächeln, das ehrlich gewesen, aber von ihrer Erinnerung zum Krüppel
gemacht worden war. Sie hatten sich nicht in die Augen sehen können.
Eine
Frauenstimme, die gedämpft von der nachbarlichen Auffahrt her durchs
Küchenfenster drang, ließ Leif zusammenzucken. Kari Wahlstrom. Und kurz darauf
Sam, der seiner Mutter antwortete. Sam... Leif konnte ihn vor seinem inneren
Auge sehen: Die rechte Schulter leicht emporgezogen, um die schwere Reisetasche
zum Wagen zu wuchten. Der Blick gesenkt, einige dunkle Haarsträhnen würden ihm
in die Stirn fallen. Ob er wohl hinauf zu Leifs Zimmerfenster blicken würde?
Leif wagte es
nicht, zum Küchenfenster zu gehen und sich selbst ein Bild von der Lage zu
machen. Zu oft schon hatte er Sam verabschiedet. Es war das erste Mal, dass er
nicht am frühen Morgen noch in Boxershorts und Schlafshirt an der Haustür
stand, fröstelnd und mit leiser Wehmut im Herzen.
Das erste Jahr,
als Samuel ins Internat aufbrach, war Leif zu fassungslos gewesen, um das
Ausmaß ihrer Trennung wirklich zu begreifen. In den folgenden Jahren war die
Rebellion der Akzeptanz des Unausweichlichen gewichen. Doch heute, an diesem
Sonntag, wollte etwas in Leif schreien. Er wollte brüllen und Sam brutal aus
dem Auto zerren. Ihm den Weg verstellen und ihn nicht gehen lassen. Nicht, wenn
sie so auseinandergingen.
Leifs
Fingernägel kratzten über seine Kopfhaut, als er die Fäuste fester schloss. Es
ziepte an seinen Haarwurzeln; er verstärkte den Zug. Dies war ein Schmerz, den
er begreifen konnte. Anders als dieses Gefühl nagender Schwäche, das sich in
seinen Bauch und in seinen Brustkorb geschlichen hatte und von da aus Wurzeln
bis in seine Fingerspitzen trieb.
Warum hatte er
nicht einfach weiterschlafen können? Samuels Aufbruch verschlafen, den Gedanken
an seinen Freund weit wegschieben, ihn vergessen, alles vergessen, was gewesen
war. Alles vergessen, was Leif sich wünschte, unausgesprochen. Aber seit dem
Kuss nicht mehr geheim. Als wären Leifs Wünsche dabei über seine Lippen
gekrochen, um ihm danach nur allzu offensichtlich auf der Nase herumzutanzen.
Er hörte den
Kofferraum und die Autotüren schlagen, kurz danach sprang der Dieselmotor viel
zu laut in der Stille des kalten Morgens an. Sein Herzschlag beschleunigte
sich, seine Handflächen wurden feucht. Sein Körper wollte sich zusammenkrampfen.
Doch der Stolz hielt ihn auf seinem Stuhl festgeklemmt, die Ellbogen
schmerzhaft auf die Tischplatte gepresst. Das Geräusch des Autos entfernte
sich.
Sam war fort.
Einfach gegangen. Zeit und Raum wurden unendlich. Er würde sich erneut
verändert haben, wenn er zurückkam. Falls er zu Leif zurückkam.
Ein ersticktes
Geräusch entwich Leifs Kehle. Es war lange her, dass er geweint hatte. Das
Erwachen aus dem Traum zählte nicht, denn über die Angst, die ihn dabei gepackt
hielt, hatte er keine Kontrolle. Tatsächlich fühlte er sich in diesem Moment
ähnlich ohnmächtig. Nur, dass diesmal nicht er es war, der in die Tiefe gezogen
wurde, sondern Sam.
Heftig fuhr er
zusammen, als mit einem Mal die melodische Türklingel ertönte. Wie von der
Tarantel gestochen sprang er auf, lief zur Haustür und riss sie auf. Ein
eisiger Schwall kalter Luft schlug ihm entgegen. Sam stand vor ihm, die Lippen
aufeinander gepresst und die Hände in den Hosentaschen vergraben. Gut vierzig
Meter die Straße hinunter stand das Auto seiner Mutter mit laufendem Motor, die
Beifahrertür stand offen. Der Klammergriff um Leifs Herz lockerte sich ein
wenig, als er sprachlos in Samuels Gesicht blickte. Zögernd, fast so, als würde
er sich schämen, zog Sam die Schultern hoch.
Gerade noch
hatte Leif davon geträumt, seinen Freund aus dem Auto zu zerren. Nun stand er
vor ihm und war nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Stattdessen
blickte er in Samuels braune Augen. Da war sie wieder, die Wärme, die er in den
letzten Tagen so schmerzlich vermisst hatte. Das Lächeln auf Leifs Lippen ließ
sich nicht aufhalten, wuchs und wurde breiter, bis es zu einem leisen Lachen
angewachsen war. Absurd, mussten sie doch Abschied voneinander nehmen.
Leifs
Fingernägel gruben sich in seine Handflächen, als er die Fäuste fest schloss.
Er musste es tun, sonst würde er irgendetwas Dummes mit seinen Händen
anstellen. »Sam…« Seine eigene Stimme kam Leif seltsam und unpassend rau vor.
Er hätte diese drei Buchstaben gerne zurückgeholt, kündigten sie doch an, dass
er etwas zu sagen hatte. Doch sein Kopf war leergefegt, kein wirklicher Gedanke
hatte darin Platz, bis auf seinen besten Freund, der vor ihm stand und alles in
Leif auszufüllen schien.
Samuels Lächeln
wurde breiter. Er nahm die Hände aus den Hosentaschen. »Komm her.«
Leif blieb wie
erstarrt stehen, doch das störte Sam nicht, vielmehr schien er sich mit dieser
Aufforderung selbst die Erlaubnis gegeben zu haben, Leif in eine feste Umarmung
zu ziehen. Dann war sie um Leif, Samuels Wärme, die durchdrungen war mit seinem
Geruch. Ein Geruch nach Zuhause, nach Geborgenheit. Und seit einiger Zeit ein
Geruch nach Abenteuer.
Nach einem
Moment des Zögerns erwiderte Leif die Umarmung, presste Sam grob an sich,
genoss die Nähe des anderen Körpers unter dem Anorak. Ein Gegenpol zu der sie
umgebenden Kälte. Als er den Kopf neigte, den roten Schal beiseiteschob und
seine Nase an Samuels Halsbeuge rieb, wusste er, dass er nun schon zum zweiten
Mal die Grenze ihrer Freundschaft überschritt. Und doch konnte er nicht anders,
zu überwältigend wirkte Samuels Nähe auf ihn. Es gab keinen Platz für Angst,
viel zu mächtig war das Glücksgefühl, Sam noch einmal so nah bei sich zu haben.
Leif wollte
mutig sein, er musste es sein, denn er spürte genau, wie Sam sich kurz
versteifte, als Leif seinen Fuß auf Grund setzte, der verboten war. Einen
Moment verharrten sie so, gierig sog Leif Samuels Duft ein, wünschte sich, er
könne ihn ewig bei sich behalten.
Doch der Moment
verging. Sie lösten sich voneinander, sahen sich unsicher und auch ein wenig
traurig an.
»Mach's gut«,
sagte Leif.
Samuels
Adamsapfel hüpfte, dann erwiderte er ein leises: »Du auch.«
Nach einem
letzten nachdenklichen Blick drehte sich Sam um und trabte zum Auto seiner
Mutter zurück.
Es tat immer noch
weh, ihn davonlaufen zu sehen. Selbst im Taumel ihrer plötzlichen Nähe wusste
Leif, dass ihre Freundschaft aus dem Gleichgewicht geraten war. Er wusste es
mit Bestimmtheit, denn das Gefühl, das Leif für Sam empfand und das sich leise
in ihm eingenistet hatte, war zäh und renitent wie der Junge, dem es galt.
Es war keine
Laune und auch keine Phase. Die Sicherheit, mit der Leif dies wusste,
verängstigte ihn. Er ahnte, dass er nie wieder zurückkehren konnte zu der
unbeschwerten Vertrautheit, die immer zwischen ihnen geherrscht hatte. Gleichzeitig
spürte er, wie etwas Anderes in ihm erblühte: Hoffnung. Er war im Kampf um ihre
Freundschaft nicht allein. Und einen Kampf, den man an Samuels Seite bestritt,
konnte man nicht verlieren – oder?
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