Kapitel 1
Ein
erwartungsvoller Schauer rann sein Rückgrat hinab. Vielleicht war es aber auch
nur die Müdigkeit nach der langen Reise. Oder die Kälte. Die Luft war frisch,
beißender als in Hamburg. Der Riemen seines schweren Rucksacks schnitt ihm in
die Schulter. Leif fühlte sich seltsam aufgekratzt. Lächerlich, eigentlich. Als
ob er noch nie verreist wäre. Aber das hier war anders. Es war kein Urlaub.
Diese Reise markierte das baldige Ende seines Studiums. Und den Beginn von
etwas Neuem. Auch, wenn er keine Ahnung hatte, was genau er sich unter dem Neuen
vorstellen sollte.
»Scheiße, ist
das kalt hier!«
Neben ihm zog
Paul fröstelnd die Schultern empor. Leif grinste amüsiert. Paul hatte schon in
Deutschland über die niedrigen Temperaturen geklagt und Leif fragte sich, ob
sein Kommilitone die Zeit in Norwegen wohl überstehen würde.
»Stell dich
nicht so an. Weichei«, kam es von Steffen, der ihre kleine Gruppe
komplettierte.
Er war ein
untersetzter Typ, bei dem schon erste Geheimratsecken zu sehen waren, obwohl er
erst Mitte zwanzig war. Und offensichtlich war Steffen der Kälte gegenüber
unempfindlicher als Paul, der Hungerhaken.
»Selber
Weichei!«, schnaubte Paul, wühlte in seinem Rucksack, zog eine Mütze heraus und
stülpte sie sich über den Kopf.
Leif musste schmunzeln.
Mit der Mütze sah Paul dank seiner Größe possierlich aus. Doch eher würde Leif
sich die Zunge abbeißen, bevor er ihm so etwas sagte. Nicht etwa, weil er
versteckte Gefühle für ihn hatte. Aber Leif kannte Paul gut genug, um zu
wissen, dass sich sein Kumpel auf seine eigene Art an ihm rächen würde.
Immerhin hatte Paul nun ausreichend Zeit dafür.
Wenn das Wetter
in den Bergen nördlich von Dombås mitspielte, würden sie die nächsten zwei
Wochen in der norwegischen Wildnis verbringen und Proben sammeln. Sie alle
standen am Ende ihres Biologiestudiums und hatten sich entschlossen, den
praktischen Teil ihrer Abschlussarbeit über den Speilhav zu schreiben,
einen See, der ein eigenes, abgeschiedenes Biotop bildete. Dort wollten sie
Hinweise auf die Folgen des Klimawandels sammeln.
Ihre Universität
hatte gute Beziehungen zu einem halbstaatlichen Institut der Norweger, das
solche Forschungen unterstützte. Gute drei Stunden Autofahrt von Dombås
entfernt erwartete sie eine Hütte des Instituts, die mit den notwendigsten
Laborgegenständen ausgestattet war, sodass sie ihre Proben katalogisieren und
archivieren konnten.
Und eigentlich
hätte sie ein Mitarbeiter des Instituts hier am Bahnhof abholen sollen. Leif
blickte nervös auf die Uhr. Sie standen seit fast zwanzig Minuten herum. Der
Bahnhof von Dombås war winzig. Er umfasste kaum mehr als ein hölzernes Gebäude,
in dem man die Fahrkarten erstehen konnte, und zwei nun verwaiste Gleise. Die
wenigen Fahrgäste, die mit ihnen ausgestiegen waren, hatten schnell das Weite
gesucht. Der Wind pfiff ihnen unangenehm um die Ohren.
»Ich glaube, da
kommt er«, sagte Steffen hörbar erleichtert.
Ein dunkelblauer
Kombi rumpelte auf den ungeteerten Parkplatz an der Kopfseite des
Bahnhofsgebäudes. Ein Skikoffer zierte sein Dach und Leif fragte sich, ob die
Sommer hier so kurz waren, dass es sich nicht lohnte, das Ding abzumontieren.
Der Mann, der ihm entstieg, musste Jan Harkonsen sein, ein wissenschaftlicher
Mitarbeiter des norwegischen Instituts, der sie für die Zeit ihres Aufenthalts
betreuen würde.
Leif war der
ältere Mann auf den ersten Blick sympathisch. Tiefe Furchen zogen sich durch
sein gebräuntes Gesicht, seine hellgrünen Augen leuchteten darin.
»Sorry, ik bin
en weinig speit«, sagte Harkonsen, als er einem nach dem anderen freundlich die
Hand schüttelte.
Durch die
ungewöhnliche Aussprache erhielten seine Worte etwas Schrulliges, was Leif und
seine Freunde schmunzeln ließ. Paul, schon immer der Charmeur unter ihnen,
versicherte Harkonsen, dass sie gerade erst angekommen waren.
Lügner, dachte Leif
vergnügt.
Sie luden ihre
Rucksäcke in den Kofferraum und falteten sich in den alten Ford, dessen
Federung unter dem Gewicht der vier Männer und ihres Gepäcks deutlich nachgab.
Im Auto roch es nach feuchten Polstern, verblasstem Rauch und Erde. Ihr Small
Talk stockte zunächst, da Harkonsen nur wenige Floskeln auf Deutsch
beherrschte. Deshalb hielten sie sich bald an Englisch, was alle vier leidlich
beherrschten, und so wurde die Fahrt durchaus unterhaltsam.
Sie verließen
Dombås, das laut Harkonsen nicht viel mehr war als eine Straßenkreuzung mit
einem überdimensionierten Supermarkt und einem gigantischen Parkplatz. Sobald
sie den Ort hinter sich gelassen hatten, prägten grüne Täler das Bild, in denen
sich silberne Flüsse schlängelten, umgeben von kargen Hügeln und Bergen, deren
Spitzen und Pässe noch von Schnee bedeckt waren. Ein stetiger Wind zauste die
niedrigen Birken. Bald schon verließ Harkonsen die gut ausgebaute Landstraße
und bog auf eine bucklige Schotterpiste ein.
Gut drei Stunden
später kletterten sie reichlich durchgeschüttelt aus dem Auto. Frischer Wind
blies Leif ins Gesicht und er streckte wohlig seine Beine. Er war nicht gerade
klein und das viele Sitzen im Flugzeug, im Zug und zuletzt in dem klapprigen
Kombi hatte ihn angestrengt.
Vor ihm
erstreckte sich leicht abfallend eine mit Birken und niedrigen Büschen
durchsetzte Wiese bis zum Ufer des Sees Svartdalsvatnet. Die Wasseroberfläche war matt und vom Wind aufgeraut.
Wie ein graues Tuch, das ein Riese zwischen die sie umgebenden Hügel und Berge
gebreitet hatte, lag der See da und vermittelte Leif einen ersten Eindruck von
der Einsamkeit, in der er die nächsten Wochen verbringen würde. Die letzte
Ansiedlung, die sie passiert hatten, lag mehrere Kilometer entfernt.
Auf dem
Grundstück, das der Wildnis abgetrotzt worden war, befanden sich drei
Holzhütten: eine größere, die wohl die Wohnhütte war, ein Schuppen und ein
Bootshaus am Ufer des Sees. Es waren die einzigen Gebäude weit und breit.
Ein aufgeregtes
Kribbeln breitete sich in Leifs Magen aus. Er brannte darauf, die Wohnhütte zu
erkunden, aus deren Schornstein sich Rauch kräuselte. Wie Harkonsen erklärte,
hatte das dunkle Holzhaus mit dem Grasdach früher abenteuerlustigen Urlaubern
als Basiscamp für ihre Wanderungen gedient, bis das Institut sie vor ein paar
Jahren erworben hatte, nachdem der weiter oben in den Bergen gelegene Speilhav zum Gegenstand
eines längeren Forschungsprojektes geworden war.
Leif wusste
nicht, ob es den anderen beiden auch so erging, aber ihm bescherte die
Aussicht, mehrere Wochen fernab jeglicher Zivilisation in dieser einfachen
Hütte zu leben ein Schaudern, das sowohl aus Abenteuerlust als auch aus einem
leisen Unbehagen gespeist wurde.
Sie wuchteten
ihre Rucksäcke aus dem Kofferraum und holten danach die von Harkonsen besorgten
Einkäufe aus dem Skikoffer, um sie in einer Kühlkammer unter einer Bodenluke in
der Wohnhütte zu verstauen. Alles in allem war die Hütte sehr rustikal und
einfach, aber gemütlich eingerichtet. Sie bestand aus drei winzigen Zimmern mit
Stockbetten und einer Stube, die in der Mitte durch einen Kamin in zwei
Bereiche unterteilt wurde. Auf der einen Seite befand sich ein größerer
gusseiserner Herd sowie ein alter Holztisch mit Stühlen, auf der anderen Seite
gruppierten sich ein abgenutztes Sofa und zwei Sessel um den Kamin. An der Wand
über dem Sofa thronte ein ausgestopfter Greifvogel, der aus gelb glänzenden
Glasaugen zu ihnen herunterstierte. Irgendwie morbid, fand Leif.
Tief sog er die
etwas abgestandene Luft ein. Jemand hatte ein Feuer im Kamin entzündet, das
bereits weiter heruntergebrannt war. Es knackte leise und ab und an stoben
Funken empor. An den hölzernen Wänden hingen gerahmte Fotos, die frühere
Forschungsteams zeigten. Paul trat neben ihn und musterte die Bilder neugierig.
»Scheint
manchmal ganz schön nass zu werden hier draußen.«
Tatsächlich
zeigten einige der Fotos Personen in durchweichter Regenkleidung und mit hohen
Gummistiefeln an den Füßen. Junge Männer und Frauen waren zu sehen, womöglich
Studenten oder Doktoranden. Auf einem Foto konnte Leif Harkonsen erkennen.
Regen tropfte von der breiten Krempe eines Hutes hinab, der Leif an einen
altmodischen Fischerhut erinnerte. Dennoch strahlte Harkonsen in die Kamera und
hielt stolz ein Glasröhrchen mit einer Wasserprobe empor.
»Ich frage mich,
wie die Zimmeraufteilung aussieht, wenn solche Gruppen hier sind«, meinte Paul
grinsend und deutete auf ein Foto, auf dem drei Männer und drei junge Frauen zu
sehen waren, die in eine ausgelassene Rangelei verwickelt waren. Ein
umgestürzter Korb voller orangeroter Beeren und das gelblich verschmierte
Gesicht eines blonden Studenten erzählten eine Sommergeschichte, bei der auch
Leif schmunzeln musste.
Dann fiel sein
Blick auf eine siebte Person im Hintergrund des Bildes. Die Gestalt des Mannes
war verschwommen, er stand aufgerichtet und blickte zu den sich balgenden
Studenten. Obwohl seine Gesichtszüge nicht deutlich zu erkennen waren, überzog
Leifs Unterarme mit einem Mal eine Gänsehaut. Die Haltung des Mannes wirkte
ernst, fast abwehrend, sein Gesicht war eine Landschaft aus markanten Schatten.
Er wirkte so deplatziert, als sei er in das ansonsten fröhliche Bild
hineinmontiert worden.
Was Leif aber
wirklich beunruhigte, war das Gefühl, den Mann auf dem Foto zu kennen. Irgendetwas,
vielleicht die Haltung seines Kopfes oder die verschwommene Linie seines Kinns
kitzelten eine Erinnerung in Leif, die er nicht zu fassen bekam.
»Obwohl, mit so
'nem Mädel würd ich schon gern eine Koje teilen«, unterbrach Paul sein Grübeln.
Er deutete auf
eine Frau mit strahlend blauen Augen und so vielen Sommersprossen im Gesicht,
dass Leif sich fragte, ob es sich um Schlammsprenkel handelte.
Leif stieß Paul
mit dem Ellenbogen an, was diesem ein dreckiges Kichern entlockte. Paul war ein
notorischer Schwerenöter und spielte sein gutes Aussehen gnadenlos bei jeder
sich bietenden Gelegenheit aus.
»Mann, du bist
echt fixiert.«
»Kann ja nicht
jeder so brav sein wie du«, stichelte Paul.
Leif zeigte ihm
den Mittelfinger.
»Danke, ich dich
auch«, meinte Paul daraufhin versöhnlich. Dann seufzte er schwer.
»Gott, ich
glaube, wenn wir hier rauskommen, haben wir Schwimmhäute zwischen den Fingern.«
Es war gut
möglich, dass Paul mit dieser Befürchtung recht behalten würde. Im Moment war
Hochsommer, die einzige Zeit, in der die Berge um den Speilhav so
schneefrei waren, dass sie den See von hier aus gut erreichen konnten. Es gab
keine Wege, geschweige denn Straßen, die bis zum See hinaufführten. Ein
mehrstündiger Fußmarsch über Geröllfelder, durch Bergbäche und sumpfige
Wildnis, sowie einige heftigere Anstiege führten in die Talmulde, deren Grund
vom Speilhav bedeckt war. Hin- und Rückweg ließen sich an einem Tag
nicht bewältigen. Sie würden eine Nacht vor Ort kampieren und ihre Proben am
nächsten Tag zurückbringen und auswerten. Wie oft sie die Tour zum See
unternehmen mussten, hing von ihrem Glück beim Finden der Proben einerseits und
vom Wetter andererseits ab. Und das war hier oben selbst im Sommer selten
stabil.
Ein Klopfen an
der Scheibe riss Leif und Paul aus dem Studium der Fotos. Harkonsen bedeutete
ihnen, nach draußen zu kommen. Gemeinsam mit Steffen wartete er etwas abseits
der Hütte neben dem Schuppen.
»Ich zeige euch
am besten gleich noch das Labor, damit ihr wisst, mit welchen Geräten ihr hier
arbeiten könnt. Außerdem gibt es, was das Leben hier in der Wildnis angeht,
noch Einiges zu beachten. Nicht wild fischen, keinen Müll wegwerfen, auf wilde
Tiere achten und so weiter«, sagte Harkonsen und gestikulierte dabei in
Richtung der Berge.
Leif bemerkte, wie
Paul sich bei den Worten wilde Tiere sichtlich anspannte.
»Stadtkind«,
raunte er ihm zu und kassierte dafür einen Knuff.
Harkonsen ließ
sich von dem Gekabbel der Studenten nicht stören.
»Der Wildhüter
wird euch nachher alles noch mal genauer erklären. Er ist ein etwas wortkarger
Kerl, aber ansonsten sehr nett. Er begleitet unsere Touren hoch zum See und
kümmert sich auch um die Verpflegung hier unten. Er wohnt einige Kilometer von
hier, schaut aber regelmäßig vorbei. Wir haben hier oben keinen Empfang für
Mobiltelefone, aber in der Hütte liegen drei Funkgeräte. Könnt ihr mit so was
umgehen?«
Leif, Paul und
Steffen schüttelten einvernehmlich den Kopf.
»Erinnert ihn
daran, euch die Bedienung zu erklären.« Harkonsen reckte den Hals, um in
Richtung des Zuwegs zur Hütte zu blicken. »Eigentlich sollte er schon längst
wieder – ah, wenn man vom Teufel spricht!«
Harkonsen
wechselte vom Englischen ins Norwegische und rief dem Mann, der nun auf sie
zukam, freundlich zu. Der Wildhüter war groß, er trug ausgebeulte Cargohosen
und einen alten Militärparka über einem schwarzen Shirt, seine schweren Stiefel
waren nass und schlammig. Ein Basecap verdeckte sein Gesicht und erst, nachdem
Harkonsen ihn freundlich mit einem Handschlag begrüßt hatte, hob er den Kopf,
sodass die nachmittägliche Sonne seine Augen in einem warmen Braun aufschimmern
ließ.
Hätte Leif es
nicht besser gewusst, hätte er geglaubt, er befände sich in seinem Traum. Ganz
zu Beginn, an diesem Punkt, an dem das Eis unter ihm zitterte, schließlich
nachgab und er fiel. Dichte Wimpern umkränzten die Augen des Mannes. Die Lippen
waren schmal und hatten einen energischen Zug. Ein dunkler Bartschatten lag auf
seinen Wangen. Obwohl Leif in das Gesicht eines Erwachsenen blickte, konnte er
das Kind darin entdecken, das er einst gewesen war. Den Jungen, den Leif
gekannt hatte.
»Sam«, würgte
Leif den Namen hervor, den er viele Jahre nicht mehr ausgesprochen hatte.
In die Mimik des
Wildhüters kam Bewegung. Erstaunen, dann Erkennen. Seine Augen wurden groß,
seine Lippen öffneten sich leicht, doch kein Laut kam darüber.
Leifs Puls
beschleunigte sich, seine Handflächen wurden feucht.
Das konnte nicht
sein, das war unmöglich! So einen Zufall konnte es nicht geben! Einen Teil des
Entsetzens, das ihn überkam, sah er im Blick des Wildhüters gespiegelt.
Fassungslos beobachtete er, wie Sam schluckte, die Zähne fest
aufeinanderpresste und offensichtlich um Beherrschung rang.
»Ihr kennt
euch?«, fragte Harkonsen erstaunt.
Leif fühlte, wie
die Blicke der Anwesenden zwischen ihnen hin und her huschten.
»Ja.«
Es war Samuels
Stimme und es war sie wieder nicht. Sie erschien Leif rauer, als er sie in
Erinnerung hatte.
»Wir waren
Freunde«, presste Leif hervor.
»Wir waren
Nachbarn«, sagte Sam im selben Moment.
Weder der eine
noch der andere Begriff konnte fassen, was sie füreinander gewesen waren. Ja,
sie hatten bereits seit ihrer Geburt nebeneinander gewohnt und Leif konnte sich
an keinen Tag seiner Kindheit erinnern, an dem er Sam nicht als seinen Freund
bezeichnet hätte. Dennoch standen sie nun wie Fremde voreinander und der
Schmerz wütete heftig in Leifs Brust, als ob es nicht Jahre, sondern erst Tage
her gewesen wäre, dass Sam ihn von sich gestoßen hatte.
Satzfetzen,
lange verdrängt, aber nie vergessen, stiegen aus Leifs Erinnerung empor. Sie
schmeckten bitter.
»Lass mich los.«
Samuels Hand,
die Leifs Berührung abstreifte. Als hätte es die letzte Nacht nie gegeben. Als
hätte es all die Jahre davor nicht gegeben. Leif verstand nicht. Verstand
nicht, warum Sam so abweisend war. Seine sonst so warmen Augen musterten Leif
mit kalter Wut. Dunkle Schatten hatten sich darunter gesammelt.
»Aber...
warum... Sam!«, stotterte Leif.
»Es war ein
Fehler. Alles. Vor allem...« Sam deutete auf Leif und das zerwühlte Bett hinter
ihm.
Panik schnürte
Leif die Kehle zu. Seine Augen brannten. Er schluckte schwer, blinzelte. Sein
Entsetzen musste ihm ins Gesicht geschrieben sein, denn kurz schien die kalte
Wut in Samuels Augen abzunehmen. Wärme blitzte in einem traurigen Lächeln auf.
»Vergiss
einfach, was passiert ist, okay?«, sagte Sam leise, dann schnappte er sich
seinen verschlissenen Rucksack, ging zur Tür und öffnete sie behutsam, als
wolle er den Schlaf des Hauses in den frühen Morgenstunden nicht stören.
Er sah sich
nicht mehr nach Leif um, noch sagte er ihm Lebewohl.
Es war das
letzte Mal gewesen, dass er Sam gesehen hatte. Bis zu diesem Moment, da er so
unvermittelt vor Leif stand. Groß und dunkel, ein wenig schäbig. Er stand etwas
geduckt, als würde er den Kopf gerne zwischen die Schultern ziehen und sich
unsichtbar machen. Verschwinden. Ja, das konnte er gut. Bastard.
Leif verstand
nicht, was Sam hier machte. Es war aberwitzig, dass sie sich ausgerechnet hier
trafen. Selbst, wenn er seiner Mutter, einer gebürtigen Norwegerin, zurück in
ihre Heimat gefolgt war – musste Sam ausgerechnet hier in der Wildnis vor ihm
stehen?
Es schmerzte und
doch konnte Leif den Blick nicht von dem anderen Mann wenden. Sie waren
annähernd gleich groß. Einige dunkle Strähnen stahlen sich unter dem
verschlissenen Basecap hervor. Eine Schramme, halb verheilt, zierte sein Kinn.
Der Ausdruck in seinen Augen glich dem eines wilden Tieres, das man in die Enge
getrieben hatte und das nun die Zähne fletschte.
Leif wünschte
sich weit fort. Seine Hände fühlten sich kalt an. Wo gerade noch Vorfreude
geherrscht hatte, bildete sich nun ein schmerzhafter Knoten in seinem Magen.
Erinnerungen drangen empor, ungefiltert, zu lange eingesperrt. Er kämpfte sie
nieder, wollte nicht zurückkehren in seine Kindheit und Jugend, zurückkehren in
eine Zeit, in der er Vertrauen gehabt hatte.
Ein unangenehmes
Schweigen breitete sich aus. Leif starrte Sam an, bis seine aufwallende Wut ihn
zwang, angestrengt auf das Grau des Sees zu blicken, während die anderen das
Gespräch wieder aufnahmen, bemüht, keine erneute Stille aufkommen zu lassen. Er
ballte die Fäuste an seinen Seiten.
Ja, er war wütend
auf Sam, mehr jedoch auf sich selbst. Denn die Scham und das Entsetzen, die ihn
bei Samuels Anblick überkamen, waren gänzlich unangebracht. Leif hatte
geglaubt, es überwunden zu haben. Die Zurückweisung. Den Verlust. Wie es
schien, hatte sich nur eine dünne Schorfschicht über die Wunde gelegt, die nun
aufbrach.
Heraus quollen
die aberwitzige Liebe eines Jungen zu seinem besten Freund, lange schlaflose
Nächte voller Ungewissheit – und Fragen. Fragen, auf die er nie wirklich eine
Antwort gefunden hatte.
Nachdem sie ihre
Sachen in der Hütte verstaut hatten, unternahmen sie gemeinsam einen
Spaziergang durch die Umgebung. Es war schön hier, einsam, aber selbst für Leifs
Geschmack zu kalt. Paul hatte die Hände tief in den Taschen seiner Jacke
vergraben und seinen Schal so hoch gewickelt, dass nur noch die Nasenspitze
herausschaute. Harkonsen, Steffen und Sam hingegen schien der kalte Wind nichts
auszumachen. Der Wildhüter ging ihnen voraus über morastige Wiesen, die
durchsetzt waren mit Birken und Büschen. Fast schien es so, als beachte er sie
nicht weiter. Doch wann immer jemand Hilfe benötigte, war Sam da.
Leif versuchte,
sich auf die Umgebung zu konzentrieren, auf den unebenen Pfad vor sich, sprang
über eine große Pfütze, verschätzte sich, landete mit einem Fuß im Morast und
war froh um seine gut gefetteten Wanderstiefel. Er sah auf, fest davon
überzeugt, dass Samuel seine Ungeschicklichkeit mit einem spöttischen Blick
kommentieren würde – wie er es früher getan hätte. Doch Sam hatte ihm den
Rücken zugewandt. Schweigend erklomm er eine Felsformation, während ihm die
anderen mehr oder weniger sicher folgten.
Die Sicht von
der Spitze der Felsen wäre großartig gewesen, hätten tief hängende Wolken nicht
die Gipfel der sie umgebenden Berge verschlungen. Dennoch konnte Leif erkennen,
dass auf einigen noch Schnee lag.
»Dort liegt der Speilhav«, erklärte
Harkonsen und wies in Richtung einer Senke, die sich zwischen zwei Bergkuppen
erstreckte. Leif fragte sich, wie weit es wohl bis dahin war. Auf den ersten
Blick erschienen die Berge recht nah, aber die wilde Landschaft war sicher
nicht leicht zu durchqueren. Vom Aufstieg in die Berge ganz zu schweigen.
Eine plötzliche
Windbö pfiff ihnen um die Ohren und riss Sam fast das Basecap vom Kopf. Leifs
Herz machte einen Satz, als er die dunkelbraunen Haarsträhnen im Wind tanzen
sah, bis Sam sich mit einer abrupten Bewegung die Kappe zurück auf den Kopf
drückte. Verärgert biss Leif die Zähne zusammen und musterte seine nassen
Stiefel. Er fühlte sich beobachtet, widerstand jedoch dem Drang Sam anzusehen.
Dabei hatte er
das Bild des anderen so genau vor seinem inneren Auge, als würde er ihn ohne
Unterlass anstarren. Es überforderte Leif, seine Erinnerungen an seinen
ehemaligen Freund mit dem schweigsamen Wildhüter in Einklang zu bringen.
Gedankenverloren
folgte er den anderen und beteiligte sich nicht an ihren Gesprächen. Er
erinnerte sich daran, wie es früher gewesen war, wenn er Sam das Schuljahr über
nicht gesehen hatte. Wie er seiner Rückkehr aus dem Internat zu Beginn der
Sommerferien entgegengefiebert hatte. Wie er all die kleinen Veränderungen an
seinem besten Freund mit einem ängstlichen Gefühl in der Brust analysiert
hatte. Denn jedes Mal war ihm Sam fremder vorgekommen. Nur, um ihn dann
anzulächeln und alles Fremde damit unbedeutend erscheinen zu lassen. Was war
Leif nur für ein Idiot gewesen. Ein verliebter Idiot. Nur, dass er lange nicht begriffen hatte. Sowohl
das eine, als auch das andere.
Sommer 2003
Lange bevor der
silberne Golf II zum Stehen kam, stand Leif bereits in der Einfahrt des kleinen
Hauses, das Kari Wahlstrom seit drei Jahren bis auf wenige Wochen im Jahr
alleine bewohnte. Das Haus war das Erbe ihres Mannes, ein geducktes
Hexenhäuschen, an dem sich der Efeu seit Jahrzehnten emporarbeitete. Es war ein
stetiger Kampf, den Samuels Mutter gegen das Grün ausfocht, damit es nicht die
Fensteröffnungen zuwucherte. Bei Wahlstroms gab es wegen des Efeus viel mehr
Käfer und Spinnen im Haus als üblich; eine Tatsache, die Sam mit Abscheu
erfüllte.
Er mochte keine
Spinnen und Leif hütete sich, ihn damit aufzuziehen. Ein kleiner Teil von ihm
genoss es jedoch, wenn sich Sam, der sonst der Wildere von ihnen beiden war,
hinter seinem Rücken versteckte. Natürlich hätte Sam nie zugegeben, dass er
Angst hatte, doch Leif konnte dessen Unbehagen an den verspannten Schultern gut
ablesen, wenn eine der dicken schwarzen Spinnen wieder einmal den Weg in
Samuels Zimmer gefunden hatte.
In diesem Augenblick
war es allerdings an Leif, angespannt zu sein. Seitdem Kari vor fast zwei
Stunden weggefahren war, hatte Leif keine ruhige Minute mehr gehabt. Zappelig
wie er war, hätte er sich normalerweise seine Laufschuhe geschnappt und sich so
lange durch den Wald getrieben, bis er nichts anderes mehr wahrgenommen hätte
als das Brennen in seinen Beinen, die Kraft, mit der seine Lungen die Luft
einsogen und die herrliche Leere, die sich durch körperliche Erschöpfung in
seinem Kopf ausbreitete.
Doch er hatte sich
nicht von zu Hause entfernen wollen. Sein Herz klopfte hart in seiner Brust,
fast so, als hätte es den Lauf durch den Wald doch gegeben. Es war Leif
unangenehm, in der Einfahrt zu stehen. Wie ein Hund, der vor einem Supermarkt
angebunden war und allen Personen, die an ihm vorbeikamen, sehnsüchtig
entgegenfiepte.
Die Krönung der
Peinlichkeit war die alte Semelsen gewesen, seine ehemalige Grundschullehrerin,
die inzwischen pensioniert war und nur zwei Straßen weiter wohnte.
Sie hatte ihm im
Vorbeifahren von ihrem monströsen Alu-Rad mit extra tiefem Einstieg aus
zugewunken und gerufen: »Na, kommt er heute wieder?«
Verdammt. War es
ihm so sehr anzusehen? Ja, natürlich war es das, schalt er sich in Gedanken.
Der halbe Ort wusste wahrscheinlich schon, dass er sich seit geschlagenen
zwanzig Minuten in der Einfahrt herumdrückte. Dabei wusste er mit Sicherheit,
dass Samuels Mutter nicht vor drei zurückkehren würde. So wie die letzten Male
auch.
Die Gedanken an
sein peinliches Verhalten wurden weggefegt, als Leif den silbernen Golf um die
Kurve biegen sah. Zurück blieb nur Aufregung. Sein Herzschlag legte noch mal zu
und er krallte seine rechte Hand in den Stoff seiner Jeans. Es war nicht gerade
warm für Juli, graue Wolken bedeckten seit Tagen den Himmel und nun fröstelte
er in seinem Shirt.
Der Golf blieb
keine drei Meter vor ihm stehen, die trüben Spiegelungen im Glas verwehrten ihm
einen klaren Blick auf Sam. Doch, das war der Junge, der nach dem letzten
Weihnachten tief vermummt mit einem roten Strickschal in der Dunkelheit des
frühen Morgens in eben jenes Auto gestiegen war. Oder – doch nicht? Nein, da
vorne saß ein Kerl, den Leif nicht wiedererkannte. Als Sam die Tür öffnete und
aus dem Wagen kletterte, stellte Leif fest, dass beide Gedanken der Wahrheit entsprachen
– und doch keiner davon. Das Erste, was er bemerkte, waren Sams dunkle Haare,
die deutlich länger waren als letzten Winter. Einige Strähnen reichten ihm bis
weit unters Jochbein. Das Zweite war, dass sein Freund gewachsen war. Sein
graues Shirt spannte an den Schultern und warf dadurch seltsame Falten.
Stumm standen
sie einander gegenüber. Leif sah Sam gebannt an, denn er wagte nicht, die
letzten zwei Schritte zu überbrücken. War der Typ ihm gegenüber noch sein
Freund? Es waren zu wenige Briefe gewesen, die sie einander geschrieben hatten.
Zu wenige Telefonate.
Leif konnte sich
Samuels Alltag nur grob vorstellen. Das Bild vom schlossartigen Internat hatte
Sam ihm schon in den ersten Ferien genommen. Dennoch waren Samuels Erzählungen
stets so oberflächlich, dass Leif nur eine verschwommene Vorstellung von dessen
Mitschülern und Lehrern hatte. Er wusste, dass Sam sich ein Zimmer mit einem
Jungen namens Maximilian teilte. Der schien so weit in Ordnung zu sein, dennoch
hatte Leif mit einem Gefühl, das er sich verschämt als Erleichterung
eingestehen musste, festgestellt, dass Max ihn nicht als besten Kumpel ersetzen
würde.
Leif suchte nach
den Spuren der vergangenen sechs Monate in Samuels Gesicht. Er fand unzählige
und wusste sie nicht zu deuten. Verunsichert wagte er sich an ein Lächeln. Sam
zog zunächst die Brauen zusammen, atmete aus und begann schließlich zu grinsen.
»Du bist
geschrumpft, Arnsberg.«
Unfreiwillig
erwiderte Leif sein Grinsen. »Arsch.«
Als sie sich
kurz umarmten, bemerkte Leif, wie recht Samuel hatte. Er war bisher immer
größer gewesen als Sam, doch nun hatten sie gleichgezogen. Knochig und warm
fühlte sich seine Schulter an, als Leif kumpelhaft darauf klopfte. Gleich
geblieben war Samuels Geruch, der gerade durch eine leichte Note seines
Schweißes untermalt wurde. Leif mochte beides. Ja, der hagere Kerl vor ihm war
definitiv Samuel Wahlstrom.
Leif lächelte
zufrieden und half Sam, seine Sachen in dessen Zimmer zu bringen. Die enge
Stiege hinauf in den ersten Stock knarzte unter ihren Schritten. Die Luft, die
sie in Samuels kleinem Zimmer erwartete, war abgestanden.
Verschämt dachte
Leif daran, wie er sich vor einigen Monaten hier hoch geschlichen hatte,
während Kari im Garten hinter dem Haus beschäftigt gewesen war. Er hatte sich
wie ein Eindringling gefühlt. Ganz still war es gewesen. Es hatte nach Sam
gerochen – oder eher wie die Erinnerung an ihn. Das Zimmer war zu aufgeräumt
gewesen, das Bett abgezogen und mit einer Tagesdecke bedeckt. Nur auf dem
Schreibtisch hatte ein Rest der üblichen Unordnung geherrscht. Bücher,
Zeitschriften, ein Wust an Zetteln. Mitschriften vergangener Schuljahre. Auf den obersten
verblasste bereits die blaue Tinte vom Licht, das nachmittags durchs Fenster
fiel.
Vorsichtig war
Leif durch das Zimmer gewandert. Seine ausgestreckte Hand hatte über dem Stapel
geschwebt, gezögert. Er hatte das Papier nicht berührt. Auch die Schublade, in
der Samuels alte Tagebücher, verborgen unter Unmengen von Kram und alten Fotos,
lagen, hatte er nicht aufgezogen. Er hatte das Rufen der Fotos vernommen. Und
das Wispern der Tagebücher. Sie hatten mit Samuels Stimme gesprochen. Ganz
leise nur, als würde Sam aus ihnen vorlesen. Als würde er Leif anvertrauen, was
er sonst nur in seiner krakeligen Schrift aufs Papier bannte.
Dem Kleiderschrank
hatte Leif hingegen nicht widerstehen können. Er war ein dunkles Ungetüm, das
drohte, das Zimmer zu verschlingen. Leif wusste, dass Sam den Opaschrank, wie er das
alte Ding getauft hatte, liebend gern losgeworden wäre. Doch um ihn die enge
Stiege hinunterzubekommen, hätte man den Bauernschrank wohl mit einer Axt
zerlegen müssen. Und ein Möbel wegzuwerfen, das noch funktionstüchtig war, kam
für Kari Wahlstrom nicht in Frage. Zu sehr musste sie das Geld beisammenhalten.
Der Opaschrank
war zäh. Er hatte die gemeinsamen Attacken ihrer Kindheit überlebt, war
Versteck, Klettergerüst, Plattform für die Sprünge in Samuels Bett und Monster
in einem gewesen. Mit einer leichten Gänsehaut auf den Unterarmen hatte Leif
die knarrende Tür geöffnet und Sam-Chaos im Inneren gefunden. Seine Unterlippe
fest zwischen die Zähne geklemmt, hatte er seine Fingerspitzen über die
schlecht zusammengefalteten Shirts und Pullover gleiten lassen. Eines von
Samuels liebsten Schlafshirts – es hatte schon Löcher am Kragen – hatte er
herausgezogen, es unvermittelt gegen seine Nase gepresst und tief eingeatmet.
Trockene Wäsche, Waschmittel, etwas staubiger Opaschrank-Muff.
Und mittendrin –
Sam. Sam an einem trägen Sommermorgen, nachdem sie bis drei Uhr wach gewesen
waren. Sam, der verpeilt und noch im Halbschlaf auf der Suche nach Koffein in
die Küche stolperte. Sam, der regungslos in seinem Bett lag.
Wie konnte man
nur so still schlafen? Kein Schnaufen, kein Schnarchen. Keine zerwühlte
Bettdecke. Nur ein ruhiger Körper, auf dem Rücken liegend oder auf der Seite
zusammengerollt. Meistens die linke, seltener die rechte. Niemals auf dem
Bauch.
Ein schuldiges
Ziehen breitete sich in Leifs Bauch aus, als ihm siedend heiß einfiel, dass
genau dieses Schlafshirt noch in seinem eigenen Bett lag. Natürlich roch es
schon lange nicht mehr nach Sam. Leif hatte sich vor einigen Wochen sogar
überlegt, es zurück in Karis Wäschekreislauf zu schmuggeln, damit es zumindest
nach dem richtigen Waschmittel roch.
Mit einem
dumpfen Laut prallte Samuels Reisetasche auf die hölzernen Dielen, deren
Zwischenräume so groß waren, dass man dort wohl bei archäologischen Grabungen
Samuels halbe Kindheit und Jugend hätte rekonstruieren können. Chipskrümel,
Schokolade, abgebrochene Bleistiftminen, Fussel, kleine Steinchen, kupferne
Münzen, Einer-Legosteine, Kerzenwachs, ja, sogar einige Krümel Gras vom letzten
Sommer würden die Forscher dort finden.
Ein Schauer
überlief Leif, als ihm in den Sinn kam, dass sie womöglich Spuren seines
eigenen Spermas finden könnten. Ungefragt drängten Bilder in seinen Kopf.
Ihm wurde warm
und er war sich sicher, dass seine Ohren wie ein Barometer Farbe annahmen. Als
er Samuels Hand auf der Schulter spürte, schreckte er zusammen.
»Was ist, kommst
du mit mir 'ne Runde im Wald laufen? Ich muss mich nach dem ganzen Rumgehocke
bewegen – dringend!«, fragte Sam und lächelte ihn an.
Erleichtert
darüber, dass Samuel ihm seine Gedanken nicht ansehen konnte, nickte Leif.
~~~
Ein warmer und
süßer Geruch erfüllte die Stube. Teller klapperten, als sie auf den Tisch
gestellt wurden. Tassen wurden mit dampfendem Kaffee gefüllt. Stimmengewirr um
ihn.
Ein Stoß in die
Rippen holte Leif aus seinen Gedanken.
»Rück mal ein
Stück«, wies Steffen ihn an und schob sich, beladen mit Besteck und mit einer
Tüte Milch unterm Arm, an Leif vorbei.
Leif kam es
immer noch so vor, als würde er neben sich stehen. Er hatte es für den Rest
ihrer Wanderung weiterhin vermieden, Sam anzusehen oder mit ihm zu sprechen.
Obwohl er auch durchaus Wut auf Samuel verspürte, war ihr Schweigen von seiner
Seite aus nicht feindselig. Es war viel mehr eine schmerzhafte Überforderung,
die Leif fest im Griff hatte. Er wollte fliehen. Er wollte Sam packen und
anschreien und schlagen. Er wollte allein sein und sich verkriechen. Und der Teil
von ihm, der am meisten schmerzte, wollte Sam ansehen.
Der Raum schien
zu schrumpfen, als Samuel zum Tisch trat, nachdem er das Feuer im Kamin wieder
angeschürt hatte. Stumm ließ er sich an einer der Ecken nieder. Nah zur Tür,
als ob er schnell flüchten können wollte. Leif konnte ihn verstehen. Er selbst
hatte sich idiotischerweise auf die andere Seite des Tisches gesetzt,
eingekesselt von Steffen und Paul, der ihn immer wieder fragend ansah. Leif
senkte den Blick auf die Tischplatte und begutachtete den tiefen Teller vor
sich, dessen Glasur mit feinen Rissen durchzogen war.
»So, Jungs, dies
hier ist Rømmegrøt, eine norwegische Spezialität. Eigentlich isst man das
vor allem bei Familienfesten, aber ich dachte mir, für den Start eures
Abenteuers ist es das Richtige. Ihr könnt noch Zimt und Zucker darüberstreuen.«
Harkonsen
lächelte breit, dann klatschte er ihnen mit einer Kelle etwas auf den Teller,
das wie ein breiiger und recht fettiger Vanillepudding aussah. Feine
Dampfschwaden kräuselten sich und der Geruch, der bisher nur vage süß und
bekannt gewesen war, verdichtete sich zu Erinnerung.
Leif hatte
vergessen, wie die Speise hieß, aber niemals könnte er ihren Duft und ihren
sahnigen Geschmack vergessen. Geburtstagsessen. Unwillkürlich sah er auf und starrte mitten in Samuels
Augen. Ein Kribbeln rann durch seine Adern.
Wie, wenn man zu
schnell mit dem Fahrrad unterwegs ist und ein Auto aus einer Ausfahrt
geschossen kommt, huschte ein unsinniger Gedanke durch Leifs ansonsten
blankes Hirn.
Samuels Miene
war unergründlich. Eine Mauer, kühl und unbekannt. Was war nur aus dem Jungen
geworden, in dessen Augen er einst geglaubt hatte, alles lesen zu können?
Leif war
dankbar, als Steffen ihm Zimt und Zucker reichte. Er streute etwas davon auf
seinen Pudding und sofort verbreitete sich herrlicher Zimtgeruch im Raum. Sein
Magen knurrte vernehmlich, doch wirklichen Appetit hatte er nicht. Wortlos
schob er den Zucker an Sam weiter, den Zimt ließ Leif neben seinem Teller
stehen. Sam mochte keinen Zimt, hatte er noch nie.
Leif tunkte den
Löffel in den Pudding und schob ihn sich lustlos in den Mund. Süß, fettig und
klebrig. Eigentlich herrlich. Und doch erschien ihm seine Kehle wie
zugeschnürt. Das Schlucken fiel ihm schwer. Leif graute davor, die großzügige
Portion aufessen zu müssen, die Harkonsen ihm aufgetan hatte.
Samuel blickte
betreten auf den Zuckerstreuer. Seine Hand hatte sich fest darum geschlossen.
Als hätte er Leifs Blick gespürt, sah er ihm in die Augen. Und für einen
kleinen Moment konnte Leif Trauer darin erkennen und etwas, das ihn an sein
eigenes Spiegelbild erinnerte, in den Monaten, nachdem er begriffen hatte, dass
Sam nicht zurückkommen würde.
Als sie das
Essen schließlich beendeten, war Leif etwas übel. Er machte sich zusammen mit
Steffen an den Abwasch, nutzte das auf dem gusseisernen Herd erwärmte Wasser
und stapelte die Teller und Tassen in eine kleine Plastikschüssel. Als er
fragte, wohin er das gebrauchte Wasser entsorgen sollte, lachte Harkonsen.
»Kipp es einfach
aus dem Fenster. In den Mengen, die hier pro Jahr zusammenkommen, ist das
unbedenklich. Und der Regen, der dort hinten aufzieht, wird das Schmutzwasser
schnell wegspülen.«
Harkonsen
deutete auf die graue Wand am Himmel, die sich langsam über den See schob.
»Das sieht
ungemütlich aus«, kommentierte Steffen.
»Nee, ist nur
etwas Regen. Kann gut sein, dass es morgen den Tag über auch noch regnet. Gute
Regensachen habt ihr hoffentlich mit? Die Wettervorhersage hat für diese Woche
zwar recht viel Sonne angekündigt, aber wirklich zuverlässig sind die
Vorhersagen meist nicht. Ist vielleicht gar nicht so schlecht, wenn es morgen
regnet, dann könnt ihr euch mehr auf die Vorbereitungen zum Aufstieg
konzentrieren. Nicht, dass ihr gleich zum Beerensammeln verschwindet.«
Harkonsen
klopfte dem verwirrt dreinblickenden Steffen freundlich auf die Schulter, und
wandte sich zur Tür.
»Samuel, bleibst
du über Nacht hier oder soll ich dich ein Stück mitnehmen?«
Leif zuckte
zusammen. Er hatte nicht bemerkt, dass Sam wieder in die Hütte gekommen war.
Der hatte seinen Teller mit Rømmegrøt fast unberührt gelassen und war dann mit
einer knappen Bemerkung auf Norwegisch vom Tisch verschwunden, bevor die
anderen auch nur die Hälfte des mächtigen Puddings verputzt hatten.
Leif war froh
darum gewesen. Sobald Sam den Raum verlassen hatte, glaubte Leif, wieder frei
atmen zu können. Dieses Gefühl wich nun schlagartig einer drückenden Enge in
seinem Brustkorb.
»Nei, lass mal«,
wehrte Sam ab. »Ich laufe. Kann etwas frische Luft vertragen.«
Harkonsen
lachte. »Na, hätte ich mir denken können. Steigst nur in ein Auto, wenn es
unbedingt sein muss.«
Wenigstens das
hatte sich nicht geändert, kam es Leif in den Sinn. Sam war früher oft im Auto
schlecht geworden. Er fragte sich, wie lange Sam zu Fuß wohl zu seiner Hütte
brauchte. Und warum er nicht einfach hierblieb. Der Gedanke verursachte ihm
eine Gänsehaut.
Mit einigen
letzten Erklärungen – »Fallt heute Nacht bei der Suche nach dem Plumpsklo nicht
in den See« und »Verriegelt die Eingangstür mit dem Schieber, hier gibt es frei
laufende und sehr neugierige Schafe« – verabschiedete sich Harkonsen von ihnen
und versprach, übermorgen zurückzukehren, damit sie gemeinsam den Aufstieg zum Speilhav machen konnten.
Sam hingegen würde ihnen morgen eine Einführung in die Funkgeräte geben und mit
ihnen die Ausrüstung zusammenpacken.
Zusammen mit
Harkonsen verließ Samuel die Hütte, drehte sich in der Tür jedoch noch einmal
um. Sein Blick lag auf Leif, als er sich mit einem kurzen »Ha det bra«
verabschiedete. Seine ungelenke Erwiderung blieb Leif im Halse stecken.
Erst nachdem die
Tür hinter den beiden zugefallen war, trat Leif ans Küchenfenster und
beobachtete die beiden ungleichen Männer, denen der beginnende Regen nichts
auszumachen schien. Samuel zog sein Basecap tief in die Stirn, während er neben
Harkonsen und dessen Auto stand und einige Worte mit ihm wechselte.
Zunächst wusste
Leif nicht, was ihn an diesem Anblick irritierte, bis Harkonsen auf einen Satz
Samuels hin energisch den Kopf schüttelte. Der ältere Mann wirkte sehr ernst,
fast angespannt. Seitdem er sie vom Bahnhof abgeholt hatte, hatte Harkonsen
fast die ganze Zeit gelacht und viele Scherze gemacht. Leif fragte sich, was
Samuel gesagt hatte, um diesen Stimmungsumschwung hervorzurufen.
Seine Irritation
wich Erstaunen, als Harkonsen Sam väterlich die Hand auf die Schulter legte und
sich näher zu ihm beugte. Eindringlich sprach er auf Samuel ein, bis dieser
sich von ihm losmachte. Leif konnte Samuels Gesichtsausdruck nicht sehen, aber
seine hochgezogenen Schultern sprachen von Abwehr.
Harkonsen
schüttelte resigniert den Kopf, dann stieg er in sein Auto und fuhr davon. Eine
Weile sah Samuel dem Auto nach, dann schulterte er einen ausgebeulten
Militärrucksack, der neben ihm gestanden hatte, und machte sich durch den Regen
und die beginnende Dämmerung auf den Weg zu seiner Hütte.
Regen prasselte
gegen die Scheibe des kleinen Schlafzimmers, in dem Leif gerade umständlich
versuchte, das Etagenbett zu beziehen. Himmel, wie schliefen die Norweger in so
kurzen und schmalen Betten? Die waren doch auch nicht gerade klein gewachsen.
Mit einem Knurren zerrte er das Laken unter die Matratze. Als er sich wieder
aufrichten wollte, stieß er sich natürlich den Kopf am oberen Bett. Er fluchte
gerade, als Paul sich ins Zimmer schob.
»Hier, die
riechen zwar etwas muffig, sind aber sauber.«
Paul warf ihm
eine Decke und ein Kissen zu. Ein Luxus, denn so würde Leif nicht in seinem
engen Mumienschlafsack schlafen müssen, in dem er stets Beklemmungen bekam.
»Danke«,
murmelte Leif und fischte nach dem dunkelblauen Bettzeug aus seinem Rucksack.
Der Bezug war
ein Relikt seiner Kindheit und hatte ihn schon auf Klassenfahrten begleitet.
Weiße Kringel waren darauf zu sehen und Leif konnte bis heute nicht sagen, ob
sie Wolken oder abstrakte Schafe darstellen sollten.
»Sag mal, was
ist das für eine Geschichte zwischen dir und dem Wildhüter?«, fragte Paul.
Sorgfältig
drehte Leif den Bezug auf links, schnappte sich die Ecken der Bettdecke und
stülpte den Bezug darüber.
»Nichts
Besonderes. Eine alte Jugendfreundschaft. Wir haben uns aus den Augen
verloren.«
Er schüttelte
die Decke, so gut es in dem kleinen Raum möglich war. Staub kitzelte in seiner
Nase.
»So, wie du dich
benimmst, steckt mehr dahinter«, stellte Paul fest.
Leif schnaubte
entnervt und stopfte den Rest der Decke recht grob in den Bezug. Paul war eine
Nervensäge. Und fast so hartnäckig wie das unangenehme Ziehen in Leifs Magen,
das ihn begleitete, seitdem er Samuel wiederbegegnet war. Zu Hause in Hamburg
hatte er für gewöhnlich keine Probleme, mit Paul über Männer zu sprechen.
Obwohl Paul – bis auf gelegentliche verbale Entgleisungen – stockhetero war,
hatte er eine gehörige Portion dreckigen Humors und war neugierig wie eine
Katze.
Für einen Moment
gab Leif den Kampf mit der Decke auf und rollte mit den Schultern. Seine
Gelenke knackten leise. Dann sah er Paul, der sich gegen den Türrahmen lehnte,
stirnrunzelnd an.
»Wir waren
Freunde. Beste Freunde. Ich habe mich in ihn verliebt. Er hat es gemerkt. Ende
der Freundschaft. Ende der Geschichte«, fasste er zusammen.
»Hm«, machte
Paul und schürzte die Lippen. »Er ist also nicht schwul?«
Leif wandte sich
dem Bett zu, bückte sich unter die obere Etage und verstaute die Decke. Dann
griff er sich das etwas stockfleckige Kissen, rümpfte die Nase und zog den
Kissenbezug darüber. Seine Gedanken wanderten zu seinem ehemaligen Freund. Dem
Sam, den er geglaubt hatte zu kennen. Ein Bild tauchte vor Leifs innerem Auge
auf.
Sam, der ihn mit
diesem Glitzern in den Augen von unten herauf ansah. Sein Kinn erschien spitz,
seine dunklen Augenbrauen waren aufgewölbt. Ein mutwilliges Lächeln auf den
geröteten Lippen. Er hatte etwas von einem kleinen Teufel gehabt, als er so
über Leifs Beinen gekniet hatte. Samuels Hände hatten an seinen Hüftknochen
gelegen und verhindert, dass Leif sich bewegte. Dann hatte Sam ganz langsam an
seinem Bauch hinabgeleckt, bis er...
Leif biss die
Zähne zusammen. Das war vergangen. Lange vorbei.
»Ich habe keine
Ahnung, ob er schwul ist oder nicht.« Leif stockte. Die nächsten Worte presste
er nur mühsam hervor. Sie taten immer noch weh. »Aber ich weiß, dass er meine
Gefühle nicht erwidert hat.«
Hallo Dewi,
AntwortenLöschenkurz und knapp: Es liest sich sehr gut, macht Lust auf mehr; schön finde ich auch, dass du mit Rückblenden arbeitest, so kann man als Leser einen Blick in die Vergangenheit von Leif werfen und gleichzeitig im "Jetzt" dabei sein - spannend.
Vielen Dank
A.