Samstag, 14. Juni 2014

Parallelwelt - Leseprobe Kapitel 9 (letztes Kapitel der Leseprobe)

Kapitel 9


Es dämmerte bereits, als Leif das Haus, in dem Sam wohnte, nach einem eineinhalbstündigen Fußmarsch erreichte. Es schien sich unter das Grasdach zu ducken, das an den Seiten tief hinabgezogen war, und war noch kleiner als die Hütte des Instituts. Helle Fensterrahmen hoben sich von dem schwarzbraunen Holz der Wände ab. Ein verbeulter und dreckiger Landrover, der so aussah, als habe er mindestens dreißig Jahre auf dem Buckel, war etwas abseits geparkt.
Leif hatte gerade die Faust gehoben, um anzuklopfen, da wurde die Tür auch schon geöffnet. Sam stand im Türrahmen und schürzte misstrauisch die Lippen. Er trug nur eine verwaschene Jeans und eine Gänsehaut auf dem nackten Oberkörper. Geschwollene rote Stellen und beginnende blaue Flecke zierten seine Haut. Sein Kinn war ebenfalls verfärbt. Seine Hand schloss sich um eine Flasche, die schwer nach Whisky aussah. Um sein Handgelenk trug er das breite Lederband, das Leif ihm vor so vielen Jahren geschenkt hatte.

Was Leif eisige Kälte durch den Körper trieb, war jedoch nicht der halbnackte Mann vor ihm, sondern die blassrosa Linie, die über seinem Herzen prangte. Sie war nicht zornig rot und aufgeworfen wie in seinem Traum, aber es war definitiv dieselbe Narbe. Er hatte es geahnt. Mehr als das.
Leif kam sich vor, als stünde er ungesichert an einem Abgrund. Schwankend. Sein Verstand schrie ihm zu, er sollte zurückweichen und sich in Sicherheit bringen. Der Abgrund hingegen flüsterte ihm zu. Leise und verführerisch. Von freiem Fall und Fliegen. Von Adrenalin und einem Tanz mit dem Unbekannten. Sein Herz schlug viel zu schwer in seiner Brust. Wie eine Trommel. Tief und vibrierend.
Leif hob den Blick und sah Sam in die Augen. Es fühlte sich an wie fallen.
»Was willst du?«, fragte Sam unfreundlich.
»Es tut mir leid«, entgegnete Leif schlicht.
Samuel musterte ihn prüfend, dann nickte er. Er sah nicht so aus, als wollte er Leif hineinlassen.
»Können wir reden?«, fragte Leif.
Nach einem merklichen Zögern seufzte Sam ergeben und trat einen Schritt zurück. Leif schob sich an ihm vorbei in das Halbdunkel der Hütte.
Er trat in einen Raum, der Wohnzimmer und Küche gleichermaßen war. Ähnlich wie in der Hütte des Instituts stand auch hier ein gusseiserner Herd, der milde Wärme verbreitete. Ein wuchtiges altes Sofa war mit einem schlichten grauen Überwurf bedeckt – wahrscheinlich, um einen grausigen Blümchenbezug zu verdecken. Hinter dem verzierten Glas der Anrichte stapelte sich fein säuberlich das Geschirr. Die karge Einrichtung wurde von einem Holztisch mit drei Schemeln unter dem größten Fenster vervollständigt. Vom Wohnzimmer ging eine einzige Türe ab, die nur halb geschlossen war, sodass Leif den Umriss eines großen Bettes ausmachen konnte. Es roch nach Holzfeuer und Mann. Und ganz unverkennbar nach Sam.
»Willst du was trinken?«, fragte der in die unangenehme Stille hinein und schwenkte die Flasche mit dem Hochprozentigem.
Leif nickte.
Sam ging zu der Anrichte, die auch im Haus von Leifs Oma hätte stehen können. Er öffnete eine Tür und holte zwei einfache Gläser hervor. Leifs Blick klebte an Rückenmuskeln, die sich viel zu aufreizend unter der Haut bewegten. Zart schimmerten silbrige Striche darauf. Mehr Narben als früher.
Als hätte Sam gespürt, dass er gemustert wurde, griff er nach einem verschlissenen Hemd, das auf dem Boden lag, und streifte es über.
»Jan würde mich umbringen, wenn er wüsste, dass ich seinen Whisky trinke... und dann auch noch aus einem Senfglas«, murmelte er, während er ihnen eingoss.
Leif grinste verhalten. Das unangenehme Puckern auf seinem Jochbein verstärkte sich dabei. Er fragte sich, ob mit Jan Harkonsen gemeint war. Er hatte schon vermutet, dass die beiden enger befreundet waren. Der Gedanke verursachte ein flatterndes Ziepen in seinem Magen. Verärgert über sich selbst zog er die Brauen zusammen. Natürlich hatte Sam Freunde. Er hatte ein ganzes Leben, von dem Leif nichts wusste. Nichts wissen wollte. Nicht wirklich.
Der Whisky biss Leif sanft in die Zunge, bevor er in einem warmen Strudel seine Speiseröhre hinabrann und Hitze in seinem Magen entfachte. Nach einem zweiten vorsichtigen Schluck setzte er das Glas ab und sah sich verstohlen im Zimmer um. Er konnte kaum persönliche Gegenstände entdecken. Keine Fotos oder Bilder an den Wänden. Keine Bücher. Eine zerfledderte Zeitung lag auf dem krümelübersäten Tisch, auf dem sich auch noch zwei dicke Kerzen und gebrauchtes Geschirr tummelten.
Er war froh, dass Sam ihm keinen Sitzplatz anbot. Stattdessen wurde er von ihm kühl gemustert. Leif räusperte sich leise. Der Alkohol hatte einen Film auf seine Stimmbänder gelegt, der es ihm schwer machte, zu sprechen.
»Es tut mir leid, Sam.«
»Das sagtest du bereits«, entgegnete Samuel und Leif war sich nicht sicher, ob er die Silben leicht verschliff.
Er biss sich auf die Unterlippe, dann senkte er den Kopf. Obwohl es in der Hütte nicht übermäßig warm war, schwitzte er unter seinem Pullover. Die Gegenwart seines ehemaligen Freundes und die Luft, die getränkt war mit dessen Geruch, waren eine Falle, die sich langsam schloss. In ihr Leif, die zappelnde Beute. Curiosity killed the cat, kam ihm ein englisches Sprichwort in den Sinn.
»Dass ich dir die Fresse poliert habe, tut mir übrigens nicht leid. Mir tut leid, dass ich dir am Ende in die Eier getreten habe«, stellte er angriffslustig klar.
Sam lachte rau: »Und ich hatte mich schon gewundert.« Er kratzte sich im Nacken, das Hemd klaffte dabei weiter auf. »Aber irgendwie hätte ich es mir denken können«, meinte er leise und ergänzte, als er Leifs fragenden Blick bemerkte: »Dass du das nicht auf sich beruhen lässt. Du konntest noch nie schlafen gehen, wenn wir uns gestritten hatten. Musstest immer Frieden schließen. Irgendwie.«
»Kann sein.« Leif zuckte mit den Schultern.
Dass er über Wochen kaum hatte schlafen können, nachdem Sam ihn verlassen hatte, würde er diesem nicht verraten. Er wusste bis heute nicht, wie er halbwegs heil durchs mündliche Abitur gekommen war.
Er schwenkte den verblieben Whisky in seinem Glas. Der rotgoldene Mahlstrom glich dem Wirrwarr kreiselnder Gedanken in seinem Kopf.
»Du hast das wirklich gesagt, oder?«, fragte Leif nach einem Moment des Schweigens. Als Sam ihm nicht antwortete, fuhr er zögerlich fort. »Das mit dem... mit dem Vertrauen«, stieß er ungelenk hervor. »Ich dachte kurzzeitig, ich hätte mir das eingebildet.«
Nun war es an Sam, den Blick zu senken. Er wandte sich ab und sah aus dem Fenster. Leif konnte von seinem Standpunkt aus noch einen Teil der Motorhaube des Landrovers erkennen, wenige Meter dahinter begannen die Bäume, so dicht zu stehen, dass es wirkte, als befänden sie sich auf einer kleinen Lichtung im Wald. Tiefe Schatten lagen zwischen den Bäumen. Bald würde es dunkel sein.
»Ja«, sagte Sam, die Rechte an seiner Seite ballte sich zur Faust. »Ich hatte immer gehofft, dass zumindest –« Er unterbrach sich, holte tief Luft, als wollte er sich beruhigen, bevor er bitter fortfuhr: »Warum… Wie kannst du nur denken, dass ich dir nicht vertraut hätte?«
Langsam drehte er sich zu Leif um. Sein Gesicht wirkte ausdruckslos, doch seine Körperhaltung verriet, wie angespannt er war. Das Glas in seiner Hand war leer. Leif hatte nicht mitbekommen, wie schnell Sam trank. Er selbst hatte nur am Whisky genippt und spürte bereits dessen Wirkung.
Der Anblick der nur unzulänglich bedeckten Brust verbündete sich mit dem Alkohol in seinem Magen zu einer unheiligen Allianz. Leif wusste, dass das Begehren nach diesem Mann in ihm vergraben war. Nicht tief. Sondern viel zu nah unter der Oberfläche, gerade in den letzten Tagen.
Sam trat auf ihn zu, so nah, dass Leif nur den Arm hätte ausstrecken müssen, um ihn zu berühren.
»Es gibt viele Dinge, die ich dir nicht sagen konnte. Und ich kann sie auch jetzt nicht erklären. Weil ich einfach… weil ich es einfach nicht kann. Aber das hat nie bedeutet, dass ich dir nicht vertraue.«
Sam schnaubte leise, ein amüsierter und gleichermaßen verzweifelter Laut. »Ich meine, sieh mich an.« Er breitete die Hände in einer Geste aus, die ihn, die Hütte und sein ganzes Leben zu umfassen schien. »Ich stehe hier vor dir und obwohl du ein beschissener Idiot bist und ich einfach mal die Klappe halten und dir einen Arschtritt verpassen sollte, der dich bis nach Oslo befördert... trotz alledem stehe ich vor dir und…« Er fuhr sich durch die Haare, sodass einzelne Strähnen wirr von seinen Kopf abstanden. »Und versuche zu erklären, was... Ach, Shit, ich rede nur Müll!«, schloss Sam seine Ausführungen heftig.
Er schnappte sich die Flasche und goss sich einen weiteren Fingerbreit ein.
Leif hatte noch nie mitbekommen, dass Sam sich betrank. Als Teenager hatten sie zwar einige Male zusammen gefeiert, aber Sam hatte nie viel vertragen, sodass er meistens nach wenigen Bieren auf Cola umgestiegen war. Leif konnte sich nicht daran erinnern, ihn je etwas Hochprozentiges trinken gesehen zu haben.
»Scheiße!«, fluchte Sam leise. »Ich hätte auf ihn hören sollen, weißt du?« Benommen schüttelte er den Kopf und Leif bekam mehr und mehr den Eindruck, dass Sam ziemlich angetrunken war. Er hatte keine Ahnung, von wem Samuel sprach. Dieser setzte das Glas an und ließ den Whisky in seine Kehle rinnen. Für einen Moment war Leif vom Anblick des sich bewegenden Adamsapfels gebannt.
»Du wirst es bereuen, wenn du dich jetzt abfüllst«, sagte er bestimmt und nahm Sam die Flasche weg, als dieser erneut danach greifen wollte.
»Das tue ich jetzt schon«, brummte Samuel.
Mit einem lauten Klacken stellte er sein Glas auf den Tisch. Dann stützte er sich mit beiden Händen darauf ab und blickte Leif von unten herauf an. Seine Augen waren gerötet, der Bluterguss an seinem Kinn ließ ihn fertig wirken. »Warum kannste nicht einfach wieder verschwinden?«
»Das habe ich mich auch schon gefragt«, sagte Leif bissig.
Er ging zur Anrichte und stellte den Whisky außerhalb von Samuels Reichweite ab. Die Flasche war fast halb leer und er hoffte inständig, dass Sam sie nicht angebrochen hatte.
»Doch wie es aussieht, hast du mich noch einige Zeit länger an der Backe. Also, wie wäre es, wenn du zur Abwechslung mal mit der Wahrheit rausrückst«, sagte Leif und verschränkte die Arme vor der Brust. Er hoffte, dass er entschlossener wirkte, als er war.
Rumpelnd rutschte der Hocker über den Boden, als Sam ihn mit dem Fuß unter dem Tisch hervorzog und sich daraufsetzte. Mit einer Geste bedeutete er Leif, sich ihm gegenüberzusetzen. Die Tischplatte war etwas klebrig, doch Leif störte sich nicht weiter daran. Er nippte an seinem Glas und sah Samuel abwartend an. Mit einem leisen Seufzen griff Sam über den Tisch und wand ihm das Glas aus den Fingern. Seine Fingerspitzen streiften kurz Leifs Haut. Während dieser noch dem irrsinnigen Prickeln hinterherspürte, das die Berührung ausgelöst hatte, kippte Sam den verbliebenen Alkohol hinunter. Er verzog das Gesicht.
»Du und ich, wir wissen beide, dass...«, begann er, nur um sich sogleich wieder zu unterbrechen.
Ein nervöses Flattern breitete sich in Leifs Magen aus. Er schluckte trocken. Er wünschte, er könnte sich an dem Glas festhalten, das ihm weggenommen worden war.
Sam stieß einen amüsierten Laut aus – es klang düster. Dann blickte er auf und sah Leif ernst an. »Ich bin nicht... normal«, sagte er stockend und betonte das normal, als sei es etwas wenig Erstrebenswertes. »Und ich kann dir nicht genauer erklären, warum. Ich... ich darf es nicht, verstehst du?«, fragte Sam bittend.
Leif sah ihn nur mit großen Augen an. Sein Verstand arbeitete wie eine überlastete Festplatte auf der Suche nach einer Interpretation des Gesagten. Sein Bauchgefühl hingegen summte Bestätigung. Natürlich war Sam nicht normal. Er war es nie gewesen.
»Woher kommen die Narben?«, fragte Leif unvermittelt.
Sam schüttelte den Kopf. »Bitte, Leif.«
»Meinst du nicht, ich hätte endlich mal eine Antwort verdient und nicht dieses Rumgeeiere?«, brauste Leif auf und erhob sich so schnell, dass der Hocker hinter ihm zu Boden ging.
»Ja verdammt, das hast du!«, knurrte Sam finster, stand ebenfalls auf und kam um den Tisch herum. Bedrohlich baute er sich vor Leif auf. Er hatte die Hände zu Fäusten geballt. Leif roch den Whisky in seinem Atem. Ihm kam der Gedanke, dass sie schon wieder kurz davorstanden, sich zu prügeln. Er schnaubte und schüttelte belustigt den Kopf, dann trat er einen halben Schritt zurück.
»Ich finde, das hier könnte auch eine Szene aus einem Superheldenfilm sein: Superman gesteht Lois Lane, wer er wirklich ist!«, sagte Leif und zeichnete mit den Händen die Schlagzeile in die Luft. »Wobei mir nicht wirklich gefällt, zur vollbusigen Comic-Figur zu mutieren«, fügte er nachdenklich an.
»Spinner«, grinste Sam und die düstere Anspannung fiel von ihm ab.
Dennoch wurde er schnell wieder ernst. Das Braun seiner Iris erschien im Dämmerlicht grau und doch so weich und lebendig. Leifs Herz machte einen kleinen Satz in seinem Brustkorb.
»Nein«, schüttelte Sam versonnen den Kopf. »Keine Heldengeschichte. In meiner Geschichte gibt es nur Verlierer.«
Leif glaubte, dass Samuel ihn noch nie so offen angesehen hatte wie in diesem Moment.
Nackt. Einsam. Gehetzt.
Nach einigen quälenden Herzschlägen räusperte sich Sam leise. Ein entschuldigendes Lächeln huschte über sein Gesicht, und er wandte sich den Kerzen auf dem Tisch zu. Das Geräusch des sich entzündenden Streichholzes durchbrach die Stille zwischen ihnen.
Leif war nicht bewusst gewesen, wie düster es inzwischen in der Hütte war. Das Kerzenlicht stemmte sich gegen graues Dunkel und vertiefte die Schatten in Samuels Gesicht.
»Ich... ich sollte wohl besser gehen«, stammelte Leif und kam sich furchtbar feige dabei vor.
»Ja«, meinte Sam gedehnt. »Wenn du heil nach Hause kommen willst, solltest du das wohl.« Er legte lauernd den Kopf schief. »Wie hast du überhaupt hergefunden?«
Leif schob die Hände in die Hosentaschen und zog die Schultern empor. Ich hab Steffen ausgequetscht und bin danach durch die Wildnis gestolpert, dachte er zynisch.
»Steffen hat mir den Weg erklärt«, sagte er leichthin.
Samuel runzelte die Stirn. »Der weiß nur, wo der erste Pfad von der Piste abzweigt«, sagte er gedankenverloren. »Wie lange hast du gebraucht, um herzukommen?«
»Och«, schürzte Leif die Lippen. »So eine gute Stunde.« Dass er sich natürlich verlaufen hatte und eher durch Zufall auf die Hütte gestoßen war, unterschlug er dabei großzügig. Genauso großzügig, wie er die Zeit gekürzt hatte, die er angeblich bis hierher gebraucht hatte. So viel dazu, dass ein Landjunge sich in der Natur zurechtfand. Äcker, Wiesen und bewirtschaftete Wälder waren eben doch etwas anderes als die norwegische Wildnis.
»Hast du ein Funkgerät dabei?«, fragte Sam streng und gab sich  mit einem kritischen Blick auf Leif, der nur in Jeans und einem leichten Pullover vor ihm stand, selbst die Antwort. »Nein, offensichtlich nicht«, seufzte er. »Du hast ja nicht mal 'ne Jacke mitgenommen.«
Sam stapfte ins angrenzende Schlafzimmer und kam mit einem schwarzen Parka zurück. Wortlos hielt er Leif das Kleidungsstück entgegen. Der nahm es mit einem verlegenen Grinsen an. Er fühlte sich wie ein kompletter Idiot. Er schlüpfte in die Jacke, deren grober Stoff weichgetragen war. Er bildete sich ein, muffigen kalten Rauch daran wahrzunehmen. Nach Samuels Duft suchte er hingegen vergeblich.
Ein Riegel klackte laut, als Sam eine Luke in der Wand öffnete, die Leif bisher übersehen hatte. Dahinter verbarg sich ein kleiner Schrank, in dem säuberlich Funkgeräte, Taschenlampen, Jagdmesser und drei Gewehre gelagert waren. Ein länglicher Kasten aus dunklem Holz war edel verziert, als ob er etwas Wertvolles verwahrte. Er kam Leif bekannt vor und doch konnte er sich nicht erinnern, wo er ihn schon einmal gesehen hatte. Das Kerzenlicht kroch über dunkles Metall und ließ den Lauf einer Pistole aufschimmern.
»Wozu brauchst du 'ne Knarre?«, fragte Leif und deutete auf die Waffe.
»Kann nützlich sein, manchmal«, erwiderte Sam lakonisch und prüfte dabei die Batterien in einem der Funkgeräte.
Er war ganz Wildhüter, als er zu Leif kam und ihm das Funkgerät in die Brusttasche des Parkas schob. »Wie das funktioniert, muss ich dir wohl hoffentlich kein zweites Mal erklären«, brummte er.
»Nein«, quetschte Leif hervor.
Nah. So nah. Und doch so weit weg.
Er konnte sich die nächsten Worte nicht erklären und er hätte sie gerne schon zurückgeholt, als sie seinen Mund verließen: »Ich könnte auch hierbleiben und morgen im Hellen zurück...«
Kurzzeitig hatte es Samuel die Sprache verschlagen. Er starrte Leif an, dann schüttelte er den Kopf.
»Ich bin betrunken, Leif. Und das bedeutet, dass du die Nacht so weit von mir entfernt wie nur möglich verbringen wirst«, knurrte er heiser.
Leif wusste nicht, ob eine Drohung oder ein Versprechen in Samuels Stimme mitschwang. So oder so – er bekam eine Gänsehaut, die selbst auf seinem Kopf zu spüren war.
Warum? Warum? Warum? Warum brauchst du Distanz? Was ist so gefährlich? Glaubst du, dass wir fallen könnten? So, wie ich es hoffe? Wie ich es fürchte?, schwirrten die Gedanken in seinem Kopf. Nichts davon durfte sich in seiner Mimik zeigen. Nichts über seine Lippen kommen.
»Auf mich wirkst du gar nicht so angeheitert«, konterte er in einem Anfall widerborstigen Mutes und fragte sich im selben Moment, ob er gerade tatsächlich versuchte, Sam zu überreden. Nur – wozu?
Sam schnaubte: »Angeheitert ganz bestimmt nicht. Aber betrunken genug, um sicherzugehen.«
»Okay«, gab Leif unter dem düsteren Blick nach. Er fragte sich, ob Sam die gleiche Anziehung verspürte wie er. Dieses Flirren in den Eingeweiden, bei dem er nicht sicher war, ob er lieber aus der Haut fahren oder Sam packen sollte. Packen, um ihn zu schütteln, ihn zu schlagen. Ihn zu beißen und zu verschlingen. Mit einiger Mühe brachte er seine Gedanken weg von Samuels Haut und dessen Körper. Er musste gehen. Schnellstmöglich.
Leif bezweifelte, dass er in der Lage sein würde, im Dunkeln den Weg zurück zu der Schotterpiste zu finden, die die größte Straße im Umkreis darstellte, aber das wollte er Sam nicht auch noch auf die Nase binden. Er hatte sich schon lächerlich genug gemacht.
Sam wandte sich von ihm ab und fischte zwei wuchtige Taschenlampen aus dem Schrank. »Ich würd dich ja mit dem Landie fahren, aber erstens bin ich dafür wirklich zu blau und zweitens hat es vor einigen Wochen die Zündkerzen geschrottet«, erklärte Sam, als hätte er Leifs letzte Gedanken erraten. Zum Glück nur diese. Er verriegelte die Luke und grinste, als er Leifs Verlegenheit bemerkte. »Aber ich bring dich bis runter zur Straße.«
Ein Kloß im Hals erschwerte Leif das Schlucken, also nickte er nur stumm. Sam knöpfte sich sein Hemd zu und zog einen derben Pullover darüber. Dann schloss er die Tür zur Hütte und ging zum Pfad, der zwischen den Bäumen begann. Leif war auf dem Hinweg einige Meter abseits aus dem Unterholz gestolpert.
»Wie kommst du mit dem Geländewagen hierher?«, fragte Leif, während Sam vor ihm den Abhang hinunterging.
Die Luft war merklich kühler geworden und Leif war froh um die derbe Jacke, die die Kälte abhielt.
»Auf der Rückseite des Hauses beginnt ein breiterer Pfad, der Richtung Südwesten führt und nach einigen Kilometern auf die Straße nach Dombås stößt. Im Winter und bei sehr viel Regen ist er nicht mit dem Auto passierbar, aber wenn der Grund halbwegs passabel ist, kommt man mit dem Landie bis hier hoch. Geht ja auch nicht ohne, alleine schon wegen der Vorräte, die ich immer mal wieder besorgen muss«, erklärte Samuel im Gehen.
Leif hatte den Eindruck, dass Sam erleichtert war, endlich von unverfänglichen Dingen sprechen zu können. Oder war er nur beruhigt, weil er Leif loswurde? Sie stapften weiter voran und Leif musste zugeben, dass er froh um Samuels Begleitung war. Ohne ihn hätte er sich hoffnungslos verirrt.
Der Pfad war als solcher oft kaum zu erkennen und fiel streckenweise steil ab. Baumwurzeln und Steine bildeten heimtückische Stolperfallen. Trotz seiner Taschenlampe entgingen Leifs Aufmerksamkeit einige Hindernisse auf dem Weg. Die Äste der schmalen Bäume und Büsche schienen nach ihnen zu greifen und kratzten über den Stoff seines Parkas. Auf dem Hinweg war ihm die Natur um ihn noch nicht so... bedrohlich vorgekommen. Als sie schließlich auf die Piste gelangten, ging sein Atem schneller. Sam hatte ein flottes Tempo angeschlagen und war trotz seiner Trunkenheit sicherer über den schmalen Pfad gelaufen.
»Danke für die Begleitung«, schnaufte Leif.
Sam lächelte nur. Energisch schob Leif seine Hände in die Taschen seiner Jacke. Er hatte die Befürchtung, dass er sonst etwas Dummes mit ihnen tun könnte. Heute Nacht würde ihn der Anblick von Samuels Hintern in den abgetragenen Jeans und seiner unbedeckten Brust mit der grausigen Narbe bis in den Schlaf verfolgen, da war er sich sicher.
Leif wandte sich zum Gehen, als er aufgehalten wurde. Die Berührung an seiner Schulter war flüchtig. Und Sam mal wieder zu nah. Leif bekämpfte den Impuls zurückzuweichen – oder Samuel an sich heranzuziehen.
»Gib mir kurz über das Funkgerät Bescheid, wenn du angekommen bist, okay?«, sagte Sam leise.
»Sicher, Mami«, stichelte Leif.
Sam verdrehte die Augen. »Da sind Trolle da draußen, die auf Menschenfleisch stehen, also nimm dich in Acht.«
»Ach, die sind bestimmt viel schärfer auf den mysteriösen Wildhüter als auf mich«, sagte Leif, drehte sich um und marschierte in Richtung Hütte.
Samuels Lachen verfolgte ihn und kroch seine Wirbelsäule hinab: »Das hoffe ich auch! Spinner!«
Ohne zurückzublicken zeigte Leif ihm den Stinkefinger. Als keine Erwiderung mehr kam, wandte sich er sich widerwillig noch einmal um. Doch der Weg war verwaist. Wo Sam gerade noch gestanden hatte, bewegten sich Schatten und Mondlicht lautlos auf dem Schotter. Angestrengt lauschte er nach den Geräuschen, die Sam verursachen musste, wenn er den Pfad emporkletterte. Doch außer den Lauten der Nacht und seinem eigenen Puls, der in seinen Ohren rauschte, war es vollkommen still um ihn herum.







Dies ist das letzte Kapitel der Leseprobe zu meinem zweiten Roman Parallelwelt. Ich hoffe, Ihr hattet Spaß damit!

Parallelwelt erscheint am 17. Juni 2014 und ist über den Cursed-Onlineshop, aber auch über den lokalen Buchhandel oder die gängigen Online-Händler sowohl als Print als auch als eBook zu erwerben.




1 Kommentar:

  1. Hallo Dewi,

    mehr Fragen als Antworten, eine Geschichte die in den Bann zieht, gelesen werden will, nein muss, ganz dringend.
    Gut, dass wir schon bald den 17. Juni haben...

    A.

    AntwortenLöschen