Mittwoch, 4. Juni 2014

Parallelwelt - Leseprobe Kapitel 4

Kapitel 4


Das Labor wurde nur noch vom Bildschirm seines Laptops, dem Licht des Mikroskops und einigen kleinen Lämpchen an den Laborgeräten erhellt. Stille umgab Leif; die anderen waren schon vor Stunden schlafen gegangen. Aber er konnte nicht. Konzentriert betrachtete er eine seiner Proben. Sie zeigte nicht das, was er sich erhofft hatte.
Das Geräusch der sich öffnenden Tür schreckte ihn auf. Harkonsen stand im Türrahmen, das Haar zerzaust, als würde draußen ein Sturm toben. Doch es war windstill, nicht einmal die Birken raschelten. Der Norweger trat ein, wandte sich um und schloss die Tür sorgfältig hinter sich. Dann kam er zu Leif herüber und beugte sich etwas vor, sodass er einen Blick auf dessen Notizen werfen konnte.

»Na, du arbeitest ja immer noch.«
»Hm«, machte Leif unbestimmt.
Er wollte allein sein. Er hatte jetzt keine Lust auf Scherze, Anekdoten oder schlaue Ratschläge des Wissenschaftlers. Harkonsen streckte die Hand nach Leifs Notizblock aus, strich über die karierten Seiten und nahm ihn schließlich an sich. Leif sah zu ihm auf. Harkonsens Anwesenheit und vor allem sein Verhalten behagten ihm nicht.
Unter zusammengezogenen Brauen warf Harkonsen Leif einen Blick zu, der fast streng wirkte.
»Du arbeitest gründlich«, sagte er, während er sich wieder den Notizen zuwandte.
Das Geräusch, als Harkonsen umblätterte, war seltsam laut. Nach einigen Seiten stockte er, seine Hand schloss sich fest um den Block. Der nächste Blick, der Leif traf, trieb ihn dazu, sich von seinem Stuhl zu erheben und einen Schritt zurückzutreten. Harkonsen legte den Kopf schief, als wollte er Leif mustern, wie ein Forscher ein seltsames Insekt mustert. Oder ein träges Raubtier seine Beute, unentschlossen, ob es zuschlagen will oder nicht.
»Du bist neugierig, Leif. Eine gute Eigenschaft für einen angehenden Wissenschaftler.«
Das väterliche Lächeln erreichte Harkonsens Augen nicht, stattdessen erschienen sie Leif seltsam kalt. Als Harkonsen einen Schritt auf ihn zutrat, bildete der Stuhl, auf dem Leif gesessen hatte, das einzige Hindernis zwischen ihnen.
»Es gibt Dinge, die man nicht erforschen sollte. Dinge, die unberührt bleiben sollten. Verstehst du mich?«, fragte er lauernd.
Leif schüttelte stumm den Kopf. Er begriff nicht, was Harkonsen von ihm wollte. Wo seine sonst so fröhliche Art geblieben war. Warum er ihm bedrohlich vorkam. Sein Herzschlag stockte, als Harkonsen die Oberlippe emporzog, fast so, als wolle er die Zähne fletschen. Ganz leise, sehr tief und kaum wahrnehmbar glaubte Leif ein Grollen zu hören, das aus der Brust des anderen Mannes zu kommen schien.
Mit einem abfälligen Hochziehen der buschigen Augenbraue ließ Harkonsen den Spiralblock achtlos zurück auf den Tisch fallen. Der Block rutschte ein Stück weit und schob einige Objektträger über die Kante, sodass sie auf dem Boden zersprangen. Scherben wie Raureif. Glitzernd bedeckten sie den Fußboden.
Leif fühlte sich gelähmt. Er blinzelte träge, hob den Blick von den Scherben zu seinen Füßen. Der Block lag aufgeschlagen da. Doch statt der Notizen und Tabellen, die mit den Werten seiner Wasserproben gefüllt waren, war die Seite, die nun aufgeschlagen war, mit einem Namen bedeckt. Wieder und wieder, Zeile für Zeile. Akkurat.
Erschrocken huschte Leifs Blick zu Harkonsen. Das... er... Er hatte das nicht geschrieben! Es war seine Handschrift, doch auf den Seiten dieses Blockes sollten sich nur seine Notizen befinden, nichts anderes. Der Name, der dort geschrieben stand, ängstigte Leif, denn er enthielt zu viele Wahrheiten. Und Harkonsen wusste darum.
Leif wich zurück, als Harkonsen den Stuhl beiseite schob und auf ihn zukam. Der Schein des Laptopmonitors reflektierte sich seltsam in seinen Augen. Silbern glänzten sie, als tanze eine kalte Flamme darin.
Harkonsens Stoß traf Leif vollkommen unvermittelt und schickte ihn auf den Fußboden. Er rang nach Luft, röchelte, doch es war, als sei sein Brustkorb eingedrückt. Panik, kristallklar, erfüllte für einige Sekunden sein Bewusstsein. Dann tat er einen keuchenden, schmerzenden Atemzug. Er wollte fliehen. Doch es hatte gerade erst begonnen. Der Tritt kam, bevor Leif sich aufrichten konnte. Er krümmte sich zusammen, ein ersticktes Gurgeln auf den Lippen. Seine Augen tränten, bittere Galle in seinem Mund. Harkonsen ragte über Leif auf, das Gesicht in Schatten getaucht, die großen Hände an seinen Seiten nur noch Schemen. Die Finger zu lang. Zu gebogen.
Leif stemmte sich hoch, atmete schwer. Feuchte Kühle in seinem Gesicht. Er spürte gar nichts mehr – und gleichzeitig alles. Schmerzen, Hoffnung und Hoffnungslosigkeit. Über allem eine Glocke aus Angst. Wut war es schließlich, die ihn handeln ließ. Er konnte nicht entkommen, dessen war er sich mit einer seltsamen Akzeptanz bewusst. Er konnte nicht gewinnen. Aber er konnte kämpfen.
Er rappelte sich auf, seine Beine zitterten, seine Hand fand die Tischkante, er stütze sich darauf. Zu wenig Atem. Es musste reichen für Bewegung. Als Harkonsen auf ihn zukam, viel zu schnell, zielte Leif mit seiner Faust auf dessen Gesicht.
Schmerz flammte auf, blendete Leif mit eisiger Kälte. Harkonsen hatte seine Faust abgefangen und hielt sie mit seiner Pranke umklammert. Leif dachte an zersplitterte Knochen. Er kämpfte, versuchte sich zu befreien. Harkonsen roch seltsam. Wie verbranntes Haar.
Leifs andere Faust fand ihr Ziel in Harkonsens Magen. Er hatte mit Härte gerechnet, mit erneutem Schmerz. Er war es nicht gewohnt, sich zu schlagen. Doch er hatte keine Nachgiebigkeit erwartet. Seltsam fehl am Platz. Als hätte er in ein prall gefülltes Daunenkissen geschlagen.
Harkonsen hingegen zeigte sich gänzlich unbeeindruckt von Leifs Gegenwehr und dem Schlag in seinen Unterleib. Mit einem rauen Zischen stieß er Leif von sich. Irgendetwas riss dabei Leifs Handrücken auf.
Schwer atmend stand er vor Harkonsen, konnte die Aggression förmlich sehen, die er ausstrahlte. Als würde sie die Atmosphäre verziehen, es schimmerte und zitterte um Harkonsen, wie Luft über heißem Asphalt.
Diesmal konnte Leif das tiefe Knurren deutlich lauter vernehmen. Es war tatsächlich Harkonsen, der es ausstieß.
Nicht menschlich, schoss es ihm durch den Kopf.
Er machte sich darauf gefasst, dass Harkonsen ihn anspringen würde, denn er kauerte sich zusammen wie eine Raubkatze vor dem Angriff. Ein Knall ertönte und Harkonsen kam tatsächlich auf Leif zu, allerdings alles andere als koordiniert. Bevor er Leif schlichtweg umrennen konnte, wurde er zurückgerissen und ans andere Ende des Labors geschleudert. Es krachte und schepperte, als er dabei einige Laborgeräte abräumte.
»Raus hier, schnell! Nimm das Fenster!«
Leif konnte sich nicht bewegen. Er starrte den Mann an, der nun in der Mitte des Raumes stand. Die Tür des Labors hinter ihm schwang nur noch in einer Angel.
Samuel. Dunkel und drohend. Fremd.
»Verdammt, Leif, beweg deinen Arsch!«
Harkonsen richtete sich grollend hinter Sam auf. Der wandte sich ihm zu, schob dabei seinen Körper zwischen Harkonsen und Leif. Und Harkonsen – lächelte. Es war ein Lächeln, das Leif das Blut in den Adern gefrieren ließ. Erwartungsfroh und kalt. Er würde sie umbringen. Hektisch sah Leif zum einzigen Fenster der Hütte. Es war kaum mehr als eine schmale Öffnung, einfach verglast und mit zwei Fensterstreben unterteilt. Es ließ sich nicht öffnen. Es gab keine Flucht. Nur Kampf.
Obwohl die Angst bitter auf seiner Zunge schmeckte, trat Leif schräg hinter Sam. Er würde ihn nicht diesem... Ding überlassen. Denn Harkonsens Gesichtsausdruck hatte jegliche Menschlichkeit verloren. Etwas Wildes, Unzähmbares lag darin. Es schien direkt in Leif hineinzugreifen und seine Eingeweide zu verknoten.
»Du sollst dich verpissen!«, knurrte Sam.
»Ich lass dich nicht allein«, konterte Leif ruhiger, als er sich fühlte.
Er hatte keine Ahnung, wie sie diesem Albtraum entkommen sollten. Die Angst betäubte alles andere, ließ nur noch einen Gedanken zurück: Sie mussten überleben. Irgendwie.
Ihr starrsinniger Dialog rang Harkonsen ein Lachen ab, dann fragte er Samuel etwas auf Norwegisch. Die Stimme unbeschwert, als säßen sie bei Kaffee und Waffeln beieinander.
Samuel stieß einen leisen Fluch aus, den Leif noch aus ihrer Kindheit kannte: »Helvetes faen!«
Plötzlich schien sich die Welt im Zeitraffer zu bewegen, während Leif das Gefühl hatte, am ganzen Körper taub zu sein. Harkonsen setzte zum Sprung an. Samuel schrie und der Schrei vibrierte in Leifs Zwerchfell, doch er verstand ihn nicht. Dann traf ihn ein Schlag, gegen den Harkonsens erste Attacke lächerlich wirkte.
Leif wurde nach hinten geschleudert, er krachte gegen das Fenster. Glas und wirbelnde Holzsplitter um ihn, als das Fenster zerbarst. Er fiel. Fiel immer weiter. Sah Samuels Gesicht sich entfernen. Harkonsen hinter ihm, eine Hand verwahrend auf seine Schulter gelegt, als Samuel sich aus dem zersplitterten Fensterrahmen beugen wollte. Leif fiel in die Schwärze. Immer weiter weg von Samuel. Und er dachte nicht an den Aufprall, der bald kommen und ihn bestimmt umbringen würde, sondern daran, dass es Sam gewesen war, der ihn ins schwarze Nichts gestoßen hatte.


Leif war dankbar für den Rest warmen Wassers, den er in einer der Thermoskannen gefunden hatte. Für eine oder zwei Tassen Tee würde er reichen. Während der Earl Grey in einem großen Becher zog, machte sich Leif daran, das Feuer im Herd anzuschüren. Es war noch Glut darin, sodass die trockenen Äste, die er hineingab, schnell Feuer fingen. Er füllte den Kessel mit Wasser und setzte ihn auf den Herd.
Es war früh. Viel zu früh, um aufzustehen. Die Sonne war zwar schon aufgegangen, aber es würde noch gut eine Stunde dauern, bis Steffen und Paul von ihren ansonsten nutzlosen Handys aus dem Schlaf gerissen wurden. Ein heißer Kaffee wäre dann sicherlich willkommen.
Leif fühlte sich mürbe. Seine Knochen schienen von innen zu schmerzen, als würden sie langsam zerrieben. Seine Augen brannten. Hätte er es nicht besser gewusst, hätte er angenommen, eine Grippe auszubrüten: die Schwere seines Körpers, die Empfindlichkeit seiner Haut. Er war erst wenige Tage hier und doch kam es ihm viel zu lang vor. Er lächelte grimmig, als er daran dachte, wie sehr er sich auf die Zeit in Norwegen gefreut hatte.
Idiot. Blauäugiger Idiot.
Natürlich hatte er nicht wissen können, dass er ausgerechnet Samuel hier treffen würde. Aber warum zur Hölle hatte es ein norwegischer See sein müssen? Hätten es nicht Island oder Grönland sein können oder seinetwegen die Anden? Irgendwo, wo es kalt und abgelegen genug war. Leif fragte sich, ob ein Teil von ihm, tief vergraben unter zerbrochenen Erinnerungen, ihn nicht doch bewusst hierhergezogen hatte.
Eine Gänsehaut überzog seinen Körper und er sah abwesend auf den Kratzer, den er sich in der letzten Nacht eingefangen hatte. Er zog sich über seine Fingerknöchel und seinen Handrücken. Eine Schürfwunde, nicht weiter schlimm, wenngleich ein unangenehmes Pochen von ihr ausging.
Er musste sich im Schlaf die Hand an der Wand aufgerissen haben, an irgendeinem Splitter, der aus der Holzvertäfelung ragte. Er hatte schlecht geträumt, irgendetwas von einem Streit im Labor, und dabei wahrscheinlich herumgefuchtelt. Harkonsen hatte in seinem Traum seine Arbeit kritisiert und es war zu einer Prügelei gekommen. Leif schüttelte abwesend den Kopf. Harkonsen hatte ihm bis jetzt keinen Anlass gegeben, an seiner freundlichen und zuvorkommenden Art zu zweifeln. Leif konnte sich nicht vorstellen, dass der Mann jemanden heftig anfuhr, geschweige denn handgreiflich wurde.
Dennoch hatte sich eine seltsame Unruhe in ihm eingenistet. Der Traum klebte an ihm und Leif war froh, dass Harkonsen nach ihrer gestrigen Rückkehr zur Hütte in Richtung Trondheim aufgebrochen war. Es würde über eine Woche dauern, bis er, begleitet von einigen norwegischen Studenten, zurückkehren würde.
Leif fischte den Teebeutel aus der Tasse und nippte an dem Tee, der eher lauwarm als heiß war. Er verzog das Gesicht, trank aber weiter und blickte auf den See hinaus, dessen Wasser einen bleiernen Blauton aufwies. Ganz still und glatt war die Wasseroberfläche, als läge ein öliger Schleier darüber.
Etwas am Rande seines Sichtfeldes weckte seine Aufmerksamkeit und ließ ihn den Kopf drehen. Er stockte in der Bewegung, seine Finger schlossen sich fester um die Tasse, die sich auf halbem Weg zu seinen Lippen befand. Ganz still stand er da, wagte kaum zu atmen. Der Impuls, sich zu verstecken, war groß und dennoch verharrte er. Viel zu sichtbar.
Samuel schien ihn jedoch nicht zu bemerken, als er hinunter zum Steg lief. Er trug eine schwarze Jogginghose und einen grauen Kapuzenpullover, auf dem sich dunkle Schweißflecken abzeichneten. Ein dunkles Handtuch war um seinen Nacken gelegt.
Leif fluchte leise, als Samuel kurz hinterm Bootshaus verschwand, das einen Teil des Blicks auf den Steg verstellte. Was machte er so früh hier? Seine Antwort bekam Leif nur wenige Augenblicke später, als Samuel bis an den Kopf des Steges lief und im Gehen seinen Pullover auszog. Achtlos ließ er ihn auf den Steg fallen. Dann folgten Turnschuhe und Jogginghose.
Es waren sicherlich zwanzig Meter, die Leif vom Seeufer trennten. Zwanzig Meter, die ihn keine Details sehen ließen. Und doch viel zu viel. Proportionen. Haut und Muskeln. Ein heller Körper vor blaugrauem Grund, der ihm unbekannt war, obwohl er ihn oft berührt hatte. Ein Körper, der seine Triebe weckte und ihn rücksichtslos zurückkatapultierte in eine hormongeflutete Jugend.
Ihm blieb nur wenig Zeit, Sam zu studieren. Die Haut an seinem Hintern der hellste Fleck, heller noch als die cremefarbene Haut seines Rückens. Einige Unregelmäßigkeiten darauf, auf die Entfernung undeutbar. Lange Beine. Oberschenkelmuskeln. Die gerade Linie der Schultern, der Schwung am Übergang zu den Armen. Die Fläche zwischen den Schulterblättern, ein neuralgischer Punkt. Leifs Fingerspitzen kribbelten.
Sam ging in die Hocke und schöpfte sich mit beiden Händen etwas Wasser ins Gesicht. Dann richtete er sich auf, trat an die Kante des Stegs – und sprang mit einem Kopfsprung ins Wasser. Das ölige Grau des Sees wurde zerrissen, als Samuels Kopf wieder auftauchte – glatt und dunkel wie ein Selkie. Er schwamm noch einige Züge, tauchte unter, dann zog er sich am Steg empor.
Leif spürte seine eigene Haut überdeutlich, als er beobachtete, wie Sam sich abtrocknete. Einfache, zweckmäßige Bewegungen. Leif glaubte, nie etwas Sinnlicheres gesehen zu haben. Er wünschte sich Sonnenlicht herbei und weniger Entfernung. Er wollte Wassertropfen auf Samuels Haut sehen und studieren, wie sie das Licht gefangen hielten. Er wollte sie von der Haut lecken, die nach Sommer roch. Wollte sehen, wie sich unter seiner warmen Zunge eine Gänsehaut bildete, die das kalte Wasser nicht hatte erzeugen können.
Benommen schüttelte Leif den Kopf und trat vom Fenster zurück. Fühlte die Schwere zwischen seinen Beinen, den Stoff seines Shirts über seiner Brust und verfluchte sich dafür.


Leif kam es so vor, als hielte der heiße Becher in seiner Hand ihn fest und nicht umgekehrt. Ein dämlicher Gedanke, wie wahrscheinlich auch die ganze Aktion dämlich war. Kaffeeduft vermischte sich mit den Gerüchen eines nordischen Morgens. Unberührtheit könnte so riechen oder Unwissen, dachte Leif. Er ließ sich auf dem Weg zum Bootshaus Zeit und doch kam er zu schnell zum Ziel seines morgendlichen Botengangs.
Sam sah überrascht auf, als er Schritte vernahm. Er hatte sich mit dem Rücken an der hölzernen Wand des Bootshauses angelehnt, die Unterarme auf den aufgestellten Knien abgelegt. Leif war froh, dass er inzwischen wieder angezogen war. Die übliche Cargohose, darüber ein dunkelblauer Wollpullover, aus dessen Kragen ein hellgraues Shirt blitzte. Nur Samuels Füße schauten noch nackt aus den Hosenbeinen. Lange, schmale Füße, gut eine Nummer größer als Leifs eigene. Seine nassen Haare kringelten sich an den Spitzen.
Für einen Augenblick stand Leif ungelenk vor Sam, der einfach nur ruhig zu ihm aufblickte. Dann gab Leif sich einen Ruck und war sich sicher, dass der andere sehen konnte, wie viel Überwindung es ihn kostete, sich ebenfalls auf den hölzernen Steg zu setzen, der am Fuße des Bootshauses begann.
»Hier«, sagte Leif und hielt ihm den Kaffeebecher hin.
Sam lächelte erstaunt, beugte sich vor und nahm den Kaffee entgegen. Seine Hände schlossen sich um den Becher, als wollte er sich daran wärmen.
»Danke.«
Er nippte an dem Kaffee und Leif fragte sich, ob Sam ihn noch immer mit einem knappen Löffel Zucker trank. Er hatte nicht darauf geachtet. Sie schwiegen eine Weile, in der zumindest Leif angestrengt nach einem Gesprächsthema suchte. Warum hatte er Sam nicht einfach die verdammte Tasse in die Hand gedrückt und war wieder ins Haus verschwunden?
»Du bist früh wach«, sagte Sam leise.
Leif musterte die grünen Schlieren auf dem dunklen Holz des Stegs. Einige nasse Stellen verrieten, wo Samuel entlanggegangen war.
»Konnte nicht mehr schlafen.« Leif zuckte mit den Schultern, dann fragte er: »Du hast heute Vormittag frei – was machst du hier?«
»Komme manchmal auf meiner Laufrunde hier vorbei. Heute hatte ich Lust auf Schwimmen. Der See ist beschissen kalt, aber... Es ist gut. Hab immer ein paar Wechselsachen im Bootshaus, für alle Fälle.«
Samuels scheues Lächeln zwang Leif dazu, die Hand zur Faust zu ballen. Das Pochen des Kratzers auf seinem Handrücken wurde stärker.
»Was hast du angestellt?«, fragte Sam und deutete auf die Schramme.
Der Wundrand war rot und etwas geschwollen, der Schorf an den Kanten nässte. Leif stieß ein unbestimmtes Brummen aus. Er würde Sam bestimmt nicht verraten, dass er im Schlaf um sich schlug.
»Hast du das richtig versorgt?«, fragte Sam.
Leif glaubte, Sorge in Samuels Stimme zu hören. Einbildung. Oder Wunschdenken?
»Ist nur ein harmloser Kratzer.«
»Zeig mal.«
Fordernd streckte Sam ihm seine Hand entgegen. Leif rührte sich nicht.
»Leif, stell dich nicht an. Das sieht so aus, als könnte es sich entzünden.«
»Quatsch, das ist harmlos«, wehrte Leif ab.
»Ich kenn mich mit solchen harmlosen Wunden aus. Viele sind es, einige können richtig Ärger machen. Also zeig her.«
Widerwillig ließ Leif zu, dass Samuel seine Hand begutachtete. Es waren kurze und zweckmäßige Berührungen, als Sam die Wunde betrachtete und sanft auf den Wundrand drückte.
Mit einem Mal schoss ein Stechen durch seine Hand. Leif keuchte und wollte seine Hand instinktiv zurückziehen, doch Sam hielt sie fest. Zu fest. Eiter quoll unter dem Schorf hervor. Nicht viel, aber dennoch widerlich.
»Hm, hab ich mir gedacht. In der Hütte ist ein Erste-Hilfe-Kasten, da müsste auch Jod drin sein. Aber erst mal muss der Schorf runter. Könnte gut sein, dass noch Dreck in der Wunde steckt, den solltest du erst rausbekommen.«
Leif war froh, als er seine Hand Samuels Griff entziehen konnte. Er schwitzte. Samuels Berührung war viel zu warm auf seiner Haut, dabei waren dessen Hände kalt. Sein Griff war zu fest. Unerschütterlich. Als könnte man ihm vertrauen.
Lüge. Samuel, seine Berührungen, der Ausdruck seiner Augen, seine Stimme, alles log, wie auch Leif gelogen hatte, früher. Vielleicht auch noch jetzt. Als er sich auf den Rückweg zur Hütte machte – allein und mit dem Versprechen, sich gleich um seine Wunde zu kümmern –, fragte er sich, wann sie wohl das letzte Mal ehrlich zueinander gewesen waren.


»Also, ich glaube, da steckt ein Splitter drin oder so«, sagte Paul und rümpfte die Nase.
Nachdem Leif seine Hand in lauwarmem Spülwasser eingeweicht hatte, damit er den Schorf besser ablösen konnte, hatte es sich Paul nicht nehmen lassen, seine Wunde zu untersuchen. Paul hatte eine seltsame Faszination für solche Dinge. Er hatte Leif einmal gesagt, dass er gern Medizin studiert hätte, aber sein Notenschnitt war schlichtweg nicht gut genug gewesen.
Paul drehte Leifs Hand zum Fenster, damit mehr Licht darauffiel. Die Jod-Tinktur stand bereit, ein paar blut- und eiterbeschmutzte Taschentücher lagen neben Leifs Hand auf der Tischplatte. Er fand das ganze Gewese vollkommen überflüssig, musste sich allerdings eingestehen, dass die Wunde entzündet aussah.
Paul brummte etwas, dann griff er nach einer Pinzette, die er vorher sorgfältig mit Alkohol aus dem Labor gereinigt hatte. Leif versteifte sich. Er mochte den Gedanken nicht, dass Paul in seiner Hand herumstocherte.
»Paul...«
»Da ist was, wirklich. Hier«, sagte Paul und deutete mit der Spitze der Pinzette auf den Teil der Wunde, der am tiefsten schien. »Siehst du das Weiße da?«
Leif beugte sich vor. Tatsächlich konnte er eine helle Spitze ausmachen, die eindeutig keine Ähnlichkeit mit dem Gewebe darum herum hatte.
»Ja...«
Ihm wurde leicht übel. Er hatte keine Probleme damit, Fische und andere Wasserbewohner zu sezieren, aber das hier gefiel ihm nicht. Der Splitter saß nah an der Stelle, auf deren Rand Samuel vorhin gedrückt hatte. Dennoch widersprach er nicht, als Paul sich daran machte, den Splitter zu entfernen.
»Au!« Himmel, Hölle, Arsch und Zwirn! »Das tut weh, verdammt!«
»Ruhe auf den billigen Plätzen«, murmelte Paul, dann bekam er den Splitter zu fassen und zog ihn gleichmäßig und zügig aus der Wunde.
Leif biss fest die Zähne zusammen, dennoch entwich ihm ein weiterer Schmerzenslaut.
Frisches Blut quoll aus der Stelle, aus der Paul den Splitter gezogen hatte. Paul legte die Pinzette samt seiner Beute zur Seite und machte sich daran, Leifs Wunde zu desinfizieren und dann mit einem breiten, rundum abschließenden Pflaster zu verschließen.
»Noch einmal tapfer sein, Prinzessin.«
»Geb dir gleich Prinzessin, du Arsch«, knurrte Leif und versuchte, das Brennen des Jods zu ignorieren.
Nach der erfolgreichen Behandlung machte sich Leif gemeinsam mit einem sehr verschlafenen Steffen daran, den Frühstückstisch zu decken. Paul hingegen nahm etwas von dem Alkohol und tropfte ihn auf den Splitter, der noch auf der Tischplatte lag.
»Sag mal, bist du dir sicher, dass du dir die Wunde an der Wand des Plumpsklos zugezogen hast?«, fragte Paul.
Leif versuchte, seine Stimme beiläufig klingen zu lassen. »Sicher, bin im Dunkeln gestolpert und gegen die Wand geschrammt«, wiederholte er die Notlüge, die er sich ausgedacht hatte, um sich nicht lächerlich zu machen. »Warum?«
»Weil das hier ganz bestimmt kein Holz ist«, antwortete Paul und wies auf den Gegenstand, der nun in einer Pfütze blutigen Alkohols lag.
Das Ding war knapp einen Zentimeter lang und erinnerte Leif an die Stücke zersplitterter Katzenkrallen, die er im Kratzbaum oder auch im Wohnzimmerteppich seiner Eltern gefunden hatte. Hinterlassenschaften Minkas, ihrer rot getigerten Katze. Nur, dass Minkas Krallen possierlich wirkten gegen das Bruchstück, das vor ihm lag.
Kälte breitete sich in Leifs Magen aus und flatterte umher wie eine Motte gegen eine erleuchtete Scheibe. Und ganz kurz blitzte eine Erinnerung auf, dunkel und verschwommen. Eine Hand, zu lange Finger, gebogen wie Klauen. Angst und ein Fall in die Tiefe.
Rettungslos.




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