Was ist ein glückliches Ende für eine Geschichte?
Gibt es hier einen Unterschied zum „Happy End“? Und: Was ist das richtige Ende für eine Geschichte?
Dies sind drei Fragen, die ich mir seit einiger Zeit
vermehrt stelle. Anlass dafür sind Rückmeldungen zu manchen meiner Geschichten
sowie Diskussionen, die ich über das Thema im allgemeinen in verschiedenen
Foren mitbekommen habe. Was mich in einer dieser Diskussionen wirklich
geschockt hat, war die Forderung einer Leserin, in der Beschreibung von
Geschichten (bzw. auch käuflich zu erwerbenden Romanen) solle am besten stehen,
ob diese gut enden, denn wenn nicht, wolle sie sie gar nicht lesen. Bei allem
Verständnis für die Sehnsucht nach Harmonie und heiler Welt – was IST ein gutes
Ende für eine Geschichte? Ist es gleichzusetzen mit einem
Klischee-Hollywood-Happy-End? Und, für mich als Autor: Kann und will ich einer
solchen Forderung nachkommen, wenn ein „gutes“ Ende einem klassischen Happy End
entsprechen muss? Ich lasse hierzu mal meine (teils sehr persönlichen) Gedanken
fließen.
Leichtes Glück ist nicht meines. Weder, wenn ich
selbst schreibe noch wenn ich eine Geschichte lese. Ich glaube, dass jeder
glückliche Moment, den man erlebt, bereits einen Funken Schmerz in sich trägt:
die Möglichkeit des Verlusts eben jenen Glückes. Auch glaube ich, dass vieles
an Glück, Liebe und Freude, die wir empfinden, dadurch tiefer werden, dass wir
wissen, dass wir sie zuweilen teuer erkaufen müssen. Wir öffnen uns im glücklichen
Moment, machen uns dadurch angreifbar – aber auch echter. Wie echt, wird
manchmal erst klar, wenn der Preis zu zahlen ist. Das hört sich jetzt zunächst
nach einer sehr pessimistischen Sichtweise an, doch das meine ich nicht. Im
Gegenteil.
Ich denke, man kann sich entscheiden, ob das Leben
in einer emotionalen Null-Linie verlaufen soll oder nicht. Ich stelle mir das
als einen Graphen vor: eine waagerechte Linie, die mit nur leichten
Schwankungen dahintrudelt. Das andere Extrem wäre eine Linie mit hohen
Ausschlägen nach oben und nach unten: manisch-depressive Wechsel sozusagen.
Auch keine schöne Vorstellung, denn ein derartiges Auf- und Ab macht einen
mürbe.
Aber es gibt große Momente im Leben –
Entscheidungen, die man treffen muss, und die man ein Leben lang befürworten
oder bitter bereuen kann. Manchmal sogar beides zur gleichen Zeit. Wenn mir ein
solcher Moment begegnet, frage ich mich selbst: Ist alles Positive, das ich mit
der Entscheidung verknüpfe, das möglicherweise Negative, das damit einher gehen
kann, wert? Das ist eine Frage des Mutes, insbesondere, wenn man schon einige
Male übel auf die Fresse gefallen ist. Oft auch der tolldreisten Beklopptheit.
Es ist auch eine Frage der Kraft – denn manchmal hat man weder die Kraft zum
Glücklich- noch zum Traurigsein.
Kurz gefasst könnte ich sagen, dass sich die
Intensität von Glück für mich durchaus in dem damit verbundenen Schmerz messen
lässt. Ein persönliches Beispiel: Mich auf meinen Mann einzulassen, bedeutet
für mich ein großes Glück. Manchmal sehe ich ihn an, und es tut einfach weh, so
beschissen schön ist dieses Gefühl. Sollte das mit uns irgendwann schief gehen
– und die Statistiken sprechen da ja nicht gerade eine optimistische Sprache,
gehe ich als emotionaler Totalschaden da raus, dessen bin ich mir sicher. Ist
es das Risiko wert? Ja. Jeden Tag und immer wieder: ja.
Geschichten zu schreiben, ist für mich ein Prozess,
in dem ich mein Innerstes nach außen kehre. Es ist für den Leser nicht eins zu
eins erkennbar, aber mein Innerstes durchwirkt die Charaktere, ihre Gefühle,
ihre Denkweisen und Handlungen. Ich füttere die Geschichten an mit meinen
Erlebnissen, mit Menschen, die ich getroffen habe. Ich zerpflücke meine
Realität, mein Leben, mein Glück und mein Leid, werfe es in den Mahlstrom einer
überbordenden Geschichte. Mein Unterbewusstsein als Kapitän.
Geschichten zu lesen, ist für mich ein Ausflug in
eine andere, fremde emotionale Realität. Ich fiebere mit den Protagonisten,
kämpfe, leide und freue mich mit ihnen. Das Lesen ist eine Art emotionaler
Vampirismus. Ich glaube auch, dass ich mich gerade in emotional ruhigen Phasen
meines Lebens eher auf Geschichten einlasse. Schlicht, weil ich mehr
emotionalen Freiraum habe. Wenn ich hingegen in positiver oder negativer
emotionaler Aufruhr bin, können mich viele Geschichten nicht berühren, weil
meine eigenen Gefühle zu präsent sind.
Sowohl das Schreiben als auch das Lesen von
Geschichten, ihr Erleben im Schaffensprozess oder im Prozess der Interpretation
des Gelesenen ist also eine hoch emotionale Sache. Mein persönliches Empfinden
von Glück und Leid ist der Maßstab, an dem ich die Geschichte ausrichte.
Was mich zu meiner Ausgangsfrage bringt: Was ist
ein glückliches oder gutes Ende für eine Geschichte? Ist ein solches
„glückliches Ende“ gleichzusetzen mit einem „Happy End“? Und müssen
Geschichten, insbesondere Liebesgeschichten, stets glücklich – happy – enden,
damit die Leserschaft befriedigt ist?
Ich habe schon oft ein wichtiges Argument mancher
Leser – insbesondere Leserinnen – für „Happy Ends“ in Geschichten gelesen: Das
Leben ist oft bitter genug, da soll wenigstens die Fantasiewelt, in die der
Leser sich stürzt, einen warm umfangen und nicht auch noch deprimieren. Ja,
diesen Wunsch kann ich verstehen. Doch wenn ich länger darüber nachdenke, kommt
mir die Sehnsucht – für manche auch Sucht – nach dem ewigen Happy End einer
emotionalen Beruhigungsspritze gleich. Ritalin für Leser. Geschichte vorbei,
alles gut, dumpfes zufriedenes Gefühl. Nächstes Buch, denn diese emotionale
Flachheit erträgt man ja nicht lange.
Was mich wirklich interessieren würde: Wie lange
trägt einen ein Happy End durch den Tag, nachdem man das Buch zugeklappt hat?
Ich glaube, bei mir sind es in den allermeisten Fällen ein paar Minuten (was
dran liegen mag, dass es nur wenige Geschichten vermögen, mich so richtig,
richtig zu packen). Ein Happy End wie ein schaler Orgasmus. Meist zieht sich
selbst bei einem Happy End eine leise Wehmut durch den Tag, denn ich muss
Abschied nehmen von der Geschichte. Wenn sie denn gut war. Wenn sie nur flaches
Popcorn-Kino war, bleibt nicht mal dieses Gefühl.
Ich frage mich, ob „Romeo & Julia“ die
berühmteste Liebesgeschichte der Welt wäre, wenn sie nicht so scheinbar „sinnlos“
tragisch ausgehen würde. Man stelle sich vor: Die verfeindeten Familien
Montague und Capulet haben angesichts der unendlich tiefen Liebe zwischen Romeo
und Julia (man erkennt sie in jedem sehnsüchtigen Blick, den sie austauschen!)
ein Einsehen; einzig wegen der heimlichen Hochzeit der beiden gibt es etwas
Stunk. Doch auch dieser Streit wird beigelegt, als man sich entschließt, die
Verbindung einfach in großem Stil noch mal zu feiern. Denn lumpen lassen tun
sich die Montagues und Capulets nicht. Auf der Hochzeit werden auch noch Tybalt
(den Romeo in dieser Fassung natürlich nicht umgebracht hat) und Paris das
erste offenschwule Liebespaar der Literaturgeschichte. Alle sind glücklich bis
an ihr Lebensende.
Jemand noch wach?
Würde man „Romeo und Julia“ abändern, nähme man der
Geschichte ihre emotionale Dichte. Man nähme den Lesern den Grund, auch noch
lange Zeit, nachdem sie sie gelesen haben, darüber nachzudenken. Man nähme
ihnen die Sehnsucht nach diesen beiden so tragisch verstorbenen Charakteren. Man
gäbe ihnen die Möglichkeit, die Figuren heiter zu vergessen. Natürlich würden
sich die Leute auch so noch vage an diese Geschichte erinnern. Aber … hätte die
Geschichte um die zwei Verliebten dann so nachhaltig bewegt? Jeanette Winterson
hat einmal geschrieben: „Das Maß aller Liebe ist Verlust“ – ein sehr wahrer
Ausspruch in meinen Augen.
Das ist hier übrigens keine vehemente Verteidigung
des tragischen Endes. Es sind Gedanken zum guten
Ende – im Sinne eines passenden Endes.
Wenn ich eine Geschichte schreibe, kommt dies einer
Reise gleich. Eine Reise eines Charakters, der irgendwo von mir aufgepickt wird
und schon sein Leben im Gepäck hat, seine Macken, Neurosen, seine guten und
schlechten Erlebnisse. Auf dem ersten Teil unserer Reise lerne ich den
Charakter kennen: Was hat ihm zu dem gemacht, der er ist? Und: Wie ist er überhaupt?
Die wenigsten Sachen verrät mir der Charakter
einfach so. Das wäre ja auch langweilig – im schlimmsten Fall sogar gruselig. Man
stelle sich vor, man lerne in der Kneipe einen Kerl kennen, der einen wie folgt
zutextet: „Hallo, ich bin der Torsten, bin 28 und Tischler. Vor 3 Monaten hat
mich mein Partner verlassen und damit mein frühkindliches Trauma wieder
rausgeholt. Meine saufende Mutter hat uns nämlich sitzen lassen, als ich vier
war. Und nachdem ich eingeschult wurde ...“
Äh, danke, aber ... nein danke. Nein, meine
Charaktere sind meistens deutlich verschlossener, ich habe einen ersten
Eindruck von ihnen, und alles weitere ergibt sich auf der Reise. Ich bin dabei,
wenn wir eine Reifenpanne haben und der Charakter mit Inbrunst gegen das Auto
tritt. Beim Frühstück sehe ich, dass er drei Löffel Zucker in den Kaffee
schmeißt, ihn aber nie umrührt und auch nur halb austrinkt. Wozu also der ganze
Zucker, der in seiner Koffeinlösung am Boden der Tasse umherdümpelt? Keine
Ahnung, denn nicht alle Eigenarten eines Charakters erfüllen einen Sinn. Ist ja
bei wirklichen Menschen auch so.
Doch mit der Zeit wird mir mein Reisegefährte
vertraut. Ich begreife, was ihn antreibt und bremst. Ich ahne versteckte Ängste
und entdecke Mut in Situationen, in denen ich nicht damit gerechnet hätte. Der Protagonist
wächst mir ans Herz.
Das ist der Moment, in dem mein Wunsch geboren
wird: Ich möchte das Beste für den Charakter. Ich möchte, dass seine eigene –
ureigenste – Reise gut endet. ‚Aha!’,
ruft nun der von mir gebeutelte Leser. ‚Da
haben wir es. Du, liebes Schreiberlein, bist auch glückliches-Ende-süchtig.’
Ja, natürlich bin ich das! Oder glaubt Ihr allen
ernstes, ich erschaffe Figuren in meinem Kopf, die munter bis in mein Herz
spazieren und erhebliches meiner freien Zeit beanspruchen, um sie zu quälen und
ihr Leben beschissen zu machen? Und das vollkommen sinnfrei?
Nein.
Aber selbst in einer expliziten Liebesgeschichte
muss ein gutes Ende nicht bedeuten, dass die Protagonisten gemeinsam
händchenhaltend in den Sonnenuntergang reiten. Es kann gute Enden geben, die
klassischen Happy Ends gleichen. Müssen sie aber nicht.
Ein gutes Ende schließt für mich einen Kreis. Ich
beende die Reise meines Protagonisten. Auf dem Weg sind ihm Dinge widerfahren,
haben ihn vielleicht erschüttert oder entzückt. Er ist gereift. Nach dieser
Reise ist er nicht mehr der selbe, die Ereignisse haben ihn berührt und auch
geformt. Vielleicht ist es die Begegnung mit einem anderen Charakter,
vielleicht auch die Begegnung mit sich selbst.
Manchmal ist ein gutes Ende auch ein offenes Ende,
in dem ich andeuten kann, auf welchem Weg sich der Protagonist befindet. Das
kann übrigens ein Weg der „Besserung“ sein, als auch der Weg ins „Verderben“.
Letztendlich ist es egal, so lange sich der Protagonist an dem Punkt befindet,
an den er durch die „Reiseereignisse“ gebracht wird.
Im Bereich der Liebesgeschichten und Romanzen ist
es natürlich schwer, sich dem Drang der Leserschaft zu widersetzen, durch die
Vereinigung der beiden Protagonisten das ultimative und eigentlich einzig
mögliche Happy End zu erreichen. Denn ja, ich will mich dem widersetzen. Nicht grundsätzlich, aber oft. Weil ich
nicht zum fünftausendsten Mal die selbe Geschichte erzählen will.
Liebe ist romantisch, klar. Partnerschaft aber
auch, vielleicht mit weniger Glitzer drum rum. Liebe ist auch eine Dreckssau. Liebe
ist harte Arbeit und Geduld. Liebe ist oft nur der Anfang. Und manchmal ist
Liebe schlichtweg nicht genug.
Ist es nicht auch eine Liebesgeschichte, wenn ein
Protagonist dem anderen ermöglicht, über sich selbst hinaus zu wachsen?
Stillstand im Leben zu beseitigen? Probleme anzugehen, vor denen er sich immer
gedrückt hat? Und muss mein Protagonist seine Ecken und Kanten im Laufe der
Geschichte „bereinigen“, damit er mühe- und nahtlos an den anderen Charakter
andocken kann? Kann es immer nur eine
Definition von glücklicher Beziehung geben? Müssen meine Protagonisten in
eheartiger Zweisamkeit enden? Müssen sie zwingend monogam sein? Zusammen leben
und den Großteil ihrer Zeit miteinander verbringen? Ich denke nicht.
Wenn Liebe so facettenreich ist, warum gibt es dann
für Liebesgeschichten scheinbar nur ein glückliches Ende? Das Liebespaar liegt
sich in den Armen, Abblende, vorbei. Wenn ich ein Drama draus machen will,
bekommen sie sich aufgrund widriger Umstände nicht, oder einer stirbt ganz
fies, oder am besten beide. Ja. Hab ich schon gemacht. ;) Auch nicht neu, ich
weiß. Siehe Romeo und Julia. Aber zumindest lässt man seinen Lesern ein
Bisschen was zum Aufarbeiten da, und wenn es nur ein Berg vollgeheulter
Taschentücher ist. ;)
Kann eine Liebesgeschichte ein glückliches Ende
haben, bei dem ich als Autor meinen Protagonisten „ankommen“ sehe und ihn mit
einem warmen Lächeln in die Zukunft entlassen kann? Eine Zukunft, in der er nicht
von rosa Zuckerwatte einbetoniert wird?
Ich meine ja.
Hallo Dewi,
AntwortenLöschenich schätze Deine Geschichten/Bücher gerade deshalb so sehr, weil die Charaktere sperrig und unrund, aber echt sind; Du ohne "heile Welt" und "Harmonie bis ans Ende aller Tage ..." auskommst und den Leser forderst, anstatt ihn in wohlige Watte zu packen. So bleibt Lesen eine Art Gourmet-Essen statt Fließband-Fastfood.
Danke dafür.
A.
Hallo Dewi,
AntwortenLöschenobwohl ich bekennender HE-Freund bin, überzeugen mich deine "sperrigen" Charaktere immer wieder.
Wenn sie am Ende glücklich sind (oder auf eine lange Zeit des Glücks zurückschauen), dann ist das für mich genau das Ende, dass ich lesen möchte. Dabei finde ich es wichtig, dass die Entscheidungen, die sie treffen zu ihnen passen. Nur so bleiben sie glaubwürdig.
Krieger und Kämpfer, die sich in totale Kuschelbären verwandeln, nur weil sie die Liebe gefunden haben? Daran glaube ich nicht.
Deine Geschichten sind einzigartig. Mach bloß weiter so, wie bisher!!!
LG ulla
Übrigens: Ihr könnt mich ja jetzt alle schlagen, aber Romeo und Julia waren in meinen Augen zwei strunzdumme Teenager. Ich mag die Geschichte nicht. Das Ende ist noch das Beste daran, da gebe ich Dewi recht.