Montag, 24. November 2014

Über die Last des Happy Ends in (Liebes-)Geschichten


Was ist ein glückliches Ende für eine Geschichte? Gibt es hier einen Unterschied zum „Happy End“? Und: Was ist das richtige Ende für eine Geschichte?

Dies sind drei Fragen, die ich mir seit einiger Zeit vermehrt stelle. Anlass dafür sind Rückmeldungen zu manchen meiner Geschichten sowie Diskussionen, die ich über das Thema im allgemeinen in verschiedenen Foren mitbekommen habe. Was mich in einer dieser Diskussionen wirklich geschockt hat, war die Forderung einer Leserin, in der Beschreibung von Geschichten (bzw. auch käuflich zu erwerbenden Romanen) solle am besten stehen, ob diese gut enden, denn wenn nicht, wolle sie sie gar nicht lesen. Bei allem Verständnis für die Sehnsucht nach Harmonie und heiler Welt – was IST ein gutes Ende für eine Geschichte? Ist es gleichzusetzen mit einem Klischee-Hollywood-Happy-End? Und, für mich als Autor: Kann und will ich einer solchen Forderung nachkommen, wenn ein „gutes“ Ende einem klassischen Happy End entsprechen muss? Ich lasse hierzu mal meine (teils sehr persönlichen) Gedanken fließen.

Leichtes Glück ist nicht meines. Weder, wenn ich selbst schreibe noch wenn ich eine Geschichte lese. Ich glaube, dass jeder glückliche Moment, den man erlebt, bereits einen Funken Schmerz in sich trägt: die Möglichkeit des Verlusts eben jenen Glückes. Auch glaube ich, dass vieles an Glück, Liebe und Freude, die wir empfinden, dadurch tiefer werden, dass wir wissen, dass wir sie zuweilen teuer erkaufen müssen. Wir öffnen uns im glücklichen Moment, machen uns dadurch angreifbar – aber auch echter. Wie echt, wird manchmal erst klar, wenn der Preis zu zahlen ist. Das hört sich jetzt zunächst nach einer sehr pessimistischen Sichtweise an, doch das meine ich nicht. Im Gegenteil.

Ich denke, man kann sich entscheiden, ob das Leben in einer emotionalen Null-Linie verlaufen soll oder nicht. Ich stelle mir das als einen Graphen vor: eine waagerechte Linie, die mit nur leichten Schwankungen dahintrudelt. Das andere Extrem wäre eine Linie mit hohen Ausschlägen nach oben und nach unten: manisch-depressive Wechsel sozusagen. Auch keine schöne Vorstellung, denn ein derartiges Auf- und Ab macht einen mürbe.

Aber es gibt große Momente im Leben – Entscheidungen, die man treffen muss, und die man ein Leben lang befürworten oder bitter bereuen kann. Manchmal sogar beides zur gleichen Zeit. Wenn mir ein solcher Moment begegnet, frage ich mich selbst: Ist alles Positive, das ich mit der Entscheidung verknüpfe, das möglicherweise Negative, das damit einher gehen kann, wert? Das ist eine Frage des Mutes, insbesondere, wenn man schon einige Male übel auf die Fresse gefallen ist. Oft auch der tolldreisten Beklopptheit. Es ist auch eine Frage der Kraft – denn manchmal hat man weder die Kraft zum Glücklich- noch zum Traurigsein.

Kurz gefasst könnte ich sagen, dass sich die Intensität von Glück für mich durchaus in dem damit verbundenen Schmerz messen lässt. Ein persönliches Beispiel: Mich auf meinen Mann einzulassen, bedeutet für mich ein großes Glück. Manchmal sehe ich ihn an, und es tut einfach weh, so beschissen schön ist dieses Gefühl. Sollte das mit uns irgendwann schief gehen – und die Statistiken sprechen da ja nicht gerade eine optimistische Sprache, gehe ich als emotionaler Totalschaden da raus, dessen bin ich mir sicher. Ist es das Risiko wert? Ja. Jeden Tag und immer wieder: ja.

Geschichten zu schreiben, ist für mich ein Prozess, in dem ich mein Innerstes nach außen kehre. Es ist für den Leser nicht eins zu eins erkennbar, aber mein Innerstes durchwirkt die Charaktere, ihre Gefühle, ihre Denkweisen und Handlungen. Ich füttere die Geschichten an mit meinen Erlebnissen, mit Menschen, die ich getroffen habe. Ich zerpflücke meine Realität, mein Leben, mein Glück und mein Leid, werfe es in den Mahlstrom einer überbordenden Geschichte. Mein Unterbewusstsein als Kapitän.

Geschichten zu lesen, ist für mich ein Ausflug in eine andere, fremde emotionale Realität. Ich fiebere mit den Protagonisten, kämpfe, leide und freue mich mit ihnen. Das Lesen ist eine Art emotionaler Vampirismus. Ich glaube auch, dass ich mich gerade in emotional ruhigen Phasen meines Lebens eher auf Geschichten einlasse. Schlicht, weil ich mehr emotionalen Freiraum habe. Wenn ich hingegen in positiver oder negativer emotionaler Aufruhr bin, können mich viele Geschichten nicht berühren, weil meine eigenen Gefühle zu präsent sind.
Sowohl das Schreiben als auch das Lesen von Geschichten, ihr Erleben im Schaffensprozess oder im Prozess der Interpretation des Gelesenen ist also eine hoch emotionale Sache. Mein persönliches Empfinden von Glück und Leid ist der Maßstab, an dem ich die Geschichte ausrichte.

Was mich zu meiner Ausgangsfrage bringt: Was ist ein glückliches oder gutes Ende für eine Geschichte? Ist ein solches „glückliches Ende“ gleichzusetzen mit einem „Happy End“? Und müssen Geschichten, insbesondere Liebesgeschichten, stets glücklich – happy – enden, damit die Leserschaft befriedigt ist?

Ich habe schon oft ein wichtiges Argument mancher Leser – insbesondere Leserinnen – für „Happy Ends“ in Geschichten gelesen: Das Leben ist oft bitter genug, da soll wenigstens die Fantasiewelt, in die der Leser sich stürzt, einen warm umfangen und nicht auch noch deprimieren. Ja, diesen Wunsch kann ich verstehen. Doch wenn ich länger darüber nachdenke, kommt mir die Sehnsucht – für manche auch Sucht – nach dem ewigen Happy End einer emotionalen Beruhigungsspritze gleich. Ritalin für Leser. Geschichte vorbei, alles gut, dumpfes zufriedenes Gefühl. Nächstes Buch, denn diese emotionale Flachheit erträgt man ja nicht lange.

Was mich wirklich interessieren würde: Wie lange trägt einen ein Happy End durch den Tag, nachdem man das Buch zugeklappt hat? Ich glaube, bei mir sind es in den allermeisten Fällen ein paar Minuten (was dran liegen mag, dass es nur wenige Geschichten vermögen, mich so richtig, richtig zu packen). Ein Happy End wie ein schaler Orgasmus. Meist zieht sich selbst bei einem Happy End eine leise Wehmut durch den Tag, denn ich muss Abschied nehmen von der Geschichte. Wenn sie denn gut war. Wenn sie nur flaches Popcorn-Kino war, bleibt nicht mal dieses Gefühl.

Ich frage mich, ob „Romeo & Julia“ die berühmteste Liebesgeschichte der Welt wäre, wenn sie nicht so scheinbar „sinnlos“ tragisch ausgehen würde. Man stelle sich vor: Die verfeindeten Familien Montague und Capulet haben angesichts der unendlich tiefen Liebe zwischen Romeo und Julia (man erkennt sie in jedem sehnsüchtigen Blick, den sie austauschen!) ein Einsehen; einzig wegen der heimlichen Hochzeit der beiden gibt es etwas Stunk. Doch auch dieser Streit wird beigelegt, als man sich entschließt, die Verbindung einfach in großem Stil noch mal zu feiern. Denn lumpen lassen tun sich die Montagues und Capulets nicht. Auf der Hochzeit werden auch noch Tybalt (den Romeo in dieser Fassung natürlich nicht umgebracht hat) und Paris das erste offenschwule Liebespaar der Literaturgeschichte. Alle sind glücklich bis an ihr Lebensende.

Jemand noch wach?

Würde man „Romeo und Julia“ abändern, nähme man der Geschichte ihre emotionale Dichte. Man nähme den Lesern den Grund, auch noch lange Zeit, nachdem sie sie gelesen haben, darüber nachzudenken. Man nähme ihnen die Sehnsucht nach diesen beiden so tragisch verstorbenen Charakteren. Man gäbe ihnen die Möglichkeit, die Figuren heiter zu vergessen. Natürlich würden sich die Leute auch so noch vage an diese Geschichte erinnern. Aber … hätte die Geschichte um die zwei Verliebten dann so nachhaltig bewegt? Jeanette Winterson hat einmal geschrieben: „Das Maß aller Liebe ist Verlust“ – ein sehr wahrer Ausspruch in meinen Augen.

Das ist hier übrigens keine vehemente Verteidigung des tragischen Endes. Es sind Gedanken zum guten Ende – im Sinne eines passenden Endes.

Wenn ich eine Geschichte schreibe, kommt dies einer Reise gleich. Eine Reise eines Charakters, der irgendwo von mir aufgepickt wird und schon sein Leben im Gepäck hat, seine Macken, Neurosen, seine guten und schlechten Erlebnisse. Auf dem ersten Teil unserer Reise lerne ich den Charakter kennen: Was hat ihm zu dem gemacht, der er ist? Und: Wie ist er überhaupt?

Die wenigsten Sachen verrät mir der Charakter einfach so. Das wäre ja auch langweilig – im schlimmsten Fall sogar gruselig. Man stelle sich vor, man lerne in der Kneipe einen Kerl kennen, der einen wie folgt zutextet: „Hallo, ich bin der Torsten, bin 28 und Tischler. Vor 3 Monaten hat mich mein Partner verlassen und damit mein frühkindliches Trauma wieder rausgeholt. Meine saufende Mutter hat uns nämlich sitzen lassen, als ich vier war. Und nachdem ich eingeschult wurde ...“

Äh, danke, aber ... nein danke. Nein, meine Charaktere sind meistens deutlich verschlossener, ich habe einen ersten Eindruck von ihnen, und alles weitere ergibt sich auf der Reise. Ich bin dabei, wenn wir eine Reifenpanne haben und der Charakter mit Inbrunst gegen das Auto tritt. Beim Frühstück sehe ich, dass er drei Löffel Zucker in den Kaffee schmeißt, ihn aber nie umrührt und auch nur halb austrinkt. Wozu also der ganze Zucker, der in seiner Koffeinlösung am Boden der Tasse umherdümpelt? Keine Ahnung, denn nicht alle Eigenarten eines Charakters erfüllen einen Sinn. Ist ja bei wirklichen Menschen auch so.
Doch mit der Zeit wird mir mein Reisegefährte vertraut. Ich begreife, was ihn antreibt und bremst. Ich ahne versteckte Ängste und entdecke Mut in Situationen, in denen ich nicht damit gerechnet hätte. Der Protagonist wächst mir ans Herz.

Das ist der Moment, in dem mein Wunsch geboren wird: Ich möchte das Beste für den Charakter. Ich möchte, dass seine eigene – ureigenste – Reise gut endet. ‚Aha!’, ruft nun der von mir gebeutelte Leser. ‚Da haben wir es. Du, liebes Schreiberlein, bist auch glückliches-Ende-süchtig.’

Ja, natürlich bin ich das! Oder glaubt Ihr allen ernstes, ich erschaffe Figuren in meinem Kopf, die munter bis in mein Herz spazieren und erhebliches meiner freien Zeit beanspruchen, um sie zu quälen und ihr Leben beschissen zu machen? Und das vollkommen sinnfrei?

Nein.

Aber selbst in einer expliziten Liebesgeschichte muss ein gutes Ende nicht bedeuten, dass die Protagonisten gemeinsam händchenhaltend in den Sonnenuntergang reiten. Es kann gute Enden geben, die klassischen Happy Ends gleichen. Müssen sie aber nicht.

Ein gutes Ende schließt für mich einen Kreis. Ich beende die Reise meines Protagonisten. Auf dem Weg sind ihm Dinge widerfahren, haben ihn vielleicht erschüttert oder entzückt. Er ist gereift. Nach dieser Reise ist er nicht mehr der selbe, die Ereignisse haben ihn berührt und auch geformt. Vielleicht ist es die Begegnung mit einem anderen Charakter, vielleicht auch die Begegnung mit sich selbst.

Manchmal ist ein gutes Ende auch ein offenes Ende, in dem ich andeuten kann, auf welchem Weg sich der Protagonist befindet. Das kann übrigens ein Weg der „Besserung“ sein, als auch der Weg ins „Verderben“. Letztendlich ist es egal, so lange sich der Protagonist an dem Punkt befindet, an den er durch die „Reiseereignisse“ gebracht wird.

Im Bereich der Liebesgeschichten und Romanzen ist es natürlich schwer, sich dem Drang der Leserschaft zu widersetzen, durch die Vereinigung der beiden Protagonisten das ultimative und eigentlich einzig mögliche Happy End zu erreichen. Denn ja, ich will mich dem widersetzen. Nicht grundsätzlich, aber oft. Weil ich nicht zum fünftausendsten Mal die selbe Geschichte erzählen will.

Liebe ist romantisch, klar. Partnerschaft aber auch, vielleicht mit weniger Glitzer drum rum. Liebe ist auch eine Dreckssau. Liebe ist harte Arbeit und Geduld. Liebe ist oft nur der Anfang. Und manchmal ist Liebe schlichtweg nicht genug.
Ist es nicht auch eine Liebesgeschichte, wenn ein Protagonist dem anderen ermöglicht, über sich selbst hinaus zu wachsen? Stillstand im Leben zu beseitigen? Probleme anzugehen, vor denen er sich immer gedrückt hat? Und muss mein Protagonist seine Ecken und Kanten im Laufe der Geschichte „bereinigen“, damit er mühe- und nahtlos an den anderen Charakter andocken kann? Kann es immer nur eine Definition von glücklicher Beziehung geben? Müssen meine Protagonisten in eheartiger Zweisamkeit enden? Müssen sie zwingend monogam sein? Zusammen leben und den Großteil ihrer Zeit miteinander verbringen? Ich denke nicht.

Wenn Liebe so facettenreich ist, warum gibt es dann für Liebesgeschichten scheinbar nur ein glückliches Ende? Das Liebespaar liegt sich in den Armen, Abblende, vorbei. Wenn ich ein Drama draus machen will, bekommen sie sich aufgrund widriger Umstände nicht, oder einer stirbt ganz fies, oder am besten beide. Ja. Hab ich schon gemacht. ;) Auch nicht neu, ich weiß. Siehe Romeo und Julia. Aber zumindest lässt man seinen Lesern ein Bisschen was zum Aufarbeiten da, und wenn es nur ein Berg vollgeheulter Taschentücher ist. ;)

Kann eine Liebesgeschichte ein glückliches Ende haben, bei dem ich als Autor meinen Protagonisten „ankommen“ sehe und ihn mit einem warmen Lächeln in die Zukunft entlassen kann? Eine Zukunft, in der er nicht von rosa Zuckerwatte einbetoniert wird?


Ich meine ja.



2 Kommentare:

  1. Hallo Dewi,
    ich schätze Deine Geschichten/Bücher gerade deshalb so sehr, weil die Charaktere sperrig und unrund, aber echt sind; Du ohne "heile Welt" und "Harmonie bis ans Ende aller Tage ..." auskommst und den Leser forderst, anstatt ihn in wohlige Watte zu packen. So bleibt Lesen eine Art Gourmet-Essen statt Fließband-Fastfood.

    Danke dafür.
    A.

    AntwortenLöschen
  2. Hallo Dewi,
    obwohl ich bekennender HE-Freund bin, überzeugen mich deine "sperrigen" Charaktere immer wieder.
    Wenn sie am Ende glücklich sind (oder auf eine lange Zeit des Glücks zurückschauen), dann ist das für mich genau das Ende, dass ich lesen möchte. Dabei finde ich es wichtig, dass die Entscheidungen, die sie treffen zu ihnen passen. Nur so bleiben sie glaubwürdig.

    Krieger und Kämpfer, die sich in totale Kuschelbären verwandeln, nur weil sie die Liebe gefunden haben? Daran glaube ich nicht.

    Deine Geschichten sind einzigartig. Mach bloß weiter so, wie bisher!!!

    LG ulla

    Übrigens: Ihr könnt mich ja jetzt alle schlagen, aber Romeo und Julia waren in meinen Augen zwei strunzdumme Teenager. Ich mag die Geschichte nicht. Das Ende ist noch das Beste daran, da gebe ich Dewi recht.

    AntwortenLöschen